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Highlights

- CHRONIK EINES AUSNAHMEZUSTANDS

Residenz-Autor*innen bloggen – Tag für Tag neu. #alleswirdgut

    21. April 2020

    Clemens Berger, Wien


    Brief an Amalia

    Heute bist Du acht Monate alt. Die ersten Ostern liegen hinter Dir. Sie waren sehr anders, als wir sie uns ausgemalt hatten: Wir waren kurz bei Deinen Großeltern in Oberwart zu Besuch, saßen mit Abstand im Garten, aßen, tranken Wein, sahen Deine Großeltern in Berlin auf dem kleinen Bildschirm eines Telefons und setzten Dich mit einem roten Ei — und, zugegeben, in einem weißen Strampler mit langen Ohren — für ein Foto auf eine Decke in der Wiese. Geparkt hatten wir erstmals hinter dem Haus. Manche Menschen, hörten wir, riefen in diesen Tagen die Polizei, wenn sie der Meinung waren, eine Zusammenkunft wäre nicht statthaft.
    Du bist unsere große Corona-Krisengewinnerin: Deine Eltern haben noch mehr Zeit für Dich. Weil Deine Frisur jener des Gesundheitsministers ähnelt, nannten wir Dich anfangs Rudi. Wenn Dir etwas nicht ganz plausibel erschien und Du einen entsprechenden Blick aufsetztest, wurde daraus Rudi Ratlos. Tatsächlich bist Du derzeit Rudi Rastlos.
    Wache ich morgens auf, inspizierst Du bereits ein Stofftier oder was immer Du zu fassen bekommen hast. Dein Blick trifft meinen, Dich überkommt eine maßlose Freude, Du ruderst mit Armen und Beinen: Hinaus, hinaus! Du bekommst Milch, wirst in den Filzanzug mit der spitzen Kapuze gepackt, kaum sind wir aus dem Haus, beginnst Du in der Umschnalltrage auf- und abzuhüpfen. Unterwegs bedenkst Du Vorbeikommende mit grellen Freudenlauten. Nach einigen Kilometern nickst Du ein. Bei der Rückkehr erwachst Du im Badezimmer, wenn ich mir die Hände mit Desinfektionsseife wasche. Du legst Deinen Kopf nach hinten und lächelst Dich selbst kopfüber im Spiegel an. Die Tage, in denen Du nach dem Spaziergang schliefst, sind vorüber.
    Auf keinen Fall willst Du abgelegt werden, zumindest nicht, wenn niemand bei Dir ist. Du erforschst jeden Gegenstand aufs Genaueste; woher der Begriff begreifen kommt, stand uns noch nie so deutlich vor Augen. Das Begreifen geht mit einem Bemunden aller Gegenstände einher, derer Du habhaft werden kannst. Sollten wir es jedoch wagen, uns tagsüber mit Dir auf dem Arm Deinem Bettchen auch nur zu nähern, ist mit heftigstem Widerstand zu rechnen. Nachdem Du dem vermaledeiten Ort entkommen bist, sitzt Du auf einmal engelsgleich ruhig neben uns, betreibst Feldforschungen und inspizierst jedes noch so kleine Krümelchen, das Du irgendwo abbeißen konntest.
    Es gibt allerdings eine kleine Chance, Dich tagsüber zumindest einmal vielleicht doch kurz in den Schlaf zu wiegen. Als Du sehr klein warst, beruhigten Dich die vielen Bücher in der Wohnung. Du schienst die unterschiedlichen Farben zu mögen. Wenn Du nun nachmittags in Deinem Bettchen liegen musst und den weinroten Schlafsack unter wildem Protest auszuziehen versuchst — dass Du diesen Reißverschluss nur wenige Zentimeter öffnen kannst, macht Dich rasend! —, dann schlägt die Stunde der Mausezähne. Ich hatte Dir einmal die Geschichte von Alois und Roswitha Mausezahn erzählt; wie sie ging, weiß ich nicht mehr. Seit damals nennen wir Dich gelegentlich Mausezahn, auch wenn Deine ersten Zähne auf sich warten lassen. Nun beginnt das Mantra: Dein Vater liest von den Buchrücken in den Regalen die Namen aller Autorinnen und Autoren vor, von Adalbert bis Veza Mausezahn. Zwischen Vornamen und Nachnamen macht er eine kleine Pause. Ödön von — Mausezahn; Honoré de — Mausezahn; Elfriede — Mausezahn; Giorgio — Mausezahn. Besonders ergiebig ist die Bibel: Nach Matthäus und Lukas und Markus und Johannes Mausezahn kommen Paulus und Timotheus und viele andere Mausezähne. Manchmal schläft Amalia Mausezahn dabei ein.

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    6. April 2020

    Clemens Berger, Wien


    Brief an Amalia

    Wir schreiben Woche drei der Isolationszeit: Deine Großeltern siehst Du nur auf unseren Telefonen, die Stadt ist beinahe im Stillstand, immer öfter weichen uns Menschen auf der Straße aus — Kinder gelten als Virenschleudern. Du blickst mit großen Augen in die Gegend und brabbelst. Du fasst mir ins Gesicht und zwickst mich in die Nase. In der Bäckerei, in der wir morgens Cappuccino und Nusskipferl holen, bist Du ein Lichtblick. Längst kennen wir den Namen des Enkels einer Verkäuferin. Sie sieht ihn nur auf ihrem Telefon.
    Dich bekümmert das Virus nicht. (Obwohl wir Dich derzeit Rudi nennen, weil Du dieselbe Frisur wie der Gesundheitsminister hast.) Du greifst nach allem, was Dir unterkommt, blitzschnell steckst Du es in den Mund, die Ladekabel unserer Telefone haben wir mit Klebeband umwickelt. Kabel haben es Dir besonders angetan; weil es davon genügend gibt, zerrst Du an ihnen, dass es eine Freude ist. Bisweilen habe ich den Eindruck, Du ahmtest manche der Leibesübungen nach, die Dein Vater nun zuhause ausführt, während Du ihm belustigt zusiehst und mit den Armen ruderst. Du dienst ihm auch als verstärkendes Gewicht bei Kniebeugen, seit heute bei Klimmzügen. Weil Dich derzeit nichts mehr ärgert als Stillstand, frohlockst Du dabei.
    Heute will ich mich bei Dir bedanken: nicht nur für das Lachen jeden Morgen, wenn ich aufwache und Dich in Deinem Bettchen liegen sehe, mit weit geöffneten Augen, den Schnuller untersuchend und kleine Reden haltend. Danke, dass ich mit Dir laut auf der Straße reden und singen und allerlei Unsinn reimen kann! Der kleine Bärlauchbär heißt so ein Lied, aber auch Amalia, das Fidikind, mit immer variierenden Strophen — und viele andere Stücke, von denen ich Dir einmal erzählen werde. Meistens habe ich Dich umgeschnallt. Wenn Du im Wagen geschoben wirst, winkst Du gern, während wir uns ausgezeichnet unterhalten; alles, was Du zu Boden wirfst, kommt in Quarantäne, nur Dein Plastkifisch wird konfischziert. Manchmal ahme ich einfach nach, was aus Dir kommt. Das erfreut Dich ungemein: Deinen Lauten wird Gehör geschenkt. Es gibt diese Sprache. Ich glaube, Du wunderst Dich bloß, dass nicht alle Wesen auf zwei Beinen diese runden Dinger im Mund haben, die Du so liebst.
    Während die Himmel flugzeugfrei sind, Fabriken stillstehen und die weltweite Schadstoffbelastung zurückgeht, während wir von Fledermäusen und Schuppentieren hören, über die das Virus in den Menschen gelangt sei, hast Du — zahnlos — zu schmatzen begonnen. Weil Dir Deine Mutter in einem Buch gemalte Tiere zeigt und Dir die entsprechenden Laute vormacht, besonders jene der Löwin, hast Du zu fauchen begonnen. Wenig erheitert uns in diesen Tagen so sehr wie dieses Fauchen. Deine Mutter krabbelt Dir auch auf dem Boden vor; aber das hat noch keine ähnlichen Auswirkungen gezeitigt wie ihr Vorfauchen. Als wir vor wenigen Tagen vor dem verschlossenen Eingang eines Lokals in der Sonne standen, kam ein junges Pärchen an uns vorbei. Du fauchtest. Ein Drache, sagte die junge Frau. Löwin, sagte ich. Tut mir leid, sagte sie.
    Der größte Dank aber gilt Deinem engelsgleichen Schlaf. Wir legen Dich kurz nach sieben Uhr abends ins Bett, Du schläfst schnell ein, und wenn wir Dich um Mitternacht zur Fütterung in unser Bett legen, beneide ich Dich darum, gleichzeitig fast zu schlafen und zu trinken und mit dem Schnuller zu spielen: traumwandlerisch. Nach zweihundert Millilitern Milch bekommst Du Deinen Schnuller. Dann lallst Du wie eine Betrunkene, lässt den Schnuller nonchalant im Mund kreisen, und wenn Du aufwachst, weil wir Unsinn mit Dir treiben wollen, bietest Du uns bisweilen Deinen Schnuller an. Dann fauchst Du. Es klingt, zugegeben, wie ein Drache. Der Drache schläft bis sieben. Danke!

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    25. März 2020

    Clemens Berger, Wien

     

    Brief an Amalia

    Der letzte Tag in der Freiheit, wie wir sie kannten, fiel auf einen ungewöhnlich warmen Donnerstag Mitte März. Ich führte Dich im Kinderwagen aus, als ich von einem Freund die Nachricht bekam, am nächsten Tag würden Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus verkündet, die unser Leben drastisch veränderten. Freunde aus den Medien konnten das nicht bestätigen, meinten allerdings, am Abend gebe es ein Pressegespräch mit dem Kanzler. Wir fuhren am ersten Supermarkt vorbei, in den zweiten aber hinein, vorbei an halbleeren Regalen und gestressten Menschen. Das Erstaunen darüber, dass es auf einmal nicht mehr alle Sorten Nudeln und von manchen Lebensmitteln wenig bis nichts mehr gibt, sagt viel über das Leben im Globalen Norden aus: Was anderswo die Regel ist, verbreitet hier Panik.
    Ich schob Dich in einen Park. Überall beratschlagten Mütter und Väter, wie sie mit der kommenden Schließung der Schulen und Kindergärten umgehen sollten. Universitäten und Theater waren bereits geschlossen. Alles blühte, Du griffst in einen gelben Strauch, als mir klar wurde, dass das vielleicht nicht so gut sei, weil Du derzeit alles, was Du zu greifen bekommst, in den Mund steckst oder zu stecken versuchst. Es folgte eine kleine Auseinandersetzung um den Goldflieder, den Du in Deiner Faust hieltst; am Ende gelang es mir aber doch, die Oberhand zu behalten und Dein Händchen zu säubern. Mit größtem Interesse beobachtetest Du die Kinder, die laufen und reden können.
    Am nächsten Morgen, als wir zu unserem Spaziergang aufbrachen, fiel mein erster Blick auf zwei Männer in orangen Anzügen, die mit Kärchern Mistkübel desinfizierten. Der zweite Blick fiel auf einen jungen Mann, der mit einem heillos überladenen Einkaufswagen aus dem Supermarkt kam. Den dritten Blick hätte ich mir schenken können, trotzdem fuhren wir an die Scheiben heran und sahen: Menschenschlangen vor den Kassen. Auf unserem Weg zur Schmelz beratschlagten wieder Eltern vor Schulen und Kindergärten, ich vereinbarte mit Deinen Großeltern in Oberwart, den fürs Wochenende geplanten Besuch zu verschieben. Auf der Schmelz spielten Kinder Schnitzeljagd, liefen einander hinterher und riefen: Hast Du jetzt Corona, oder was?
    Zuhause schaltete ich das Fernsehgerät ein. Weil Du Österreicherin und Deutsche bist, lauschten wir zuerst den deutschen Nachrichten. Ein Unternehmer an der Grenze zum Elsass, wo viele mit dem Virus infiziert sind, meinte, er lasse seine Arbeiter weiterhin aus Frankreich zur Herstellung von Pipelines kommen, weil dies noch nicht verboten sei. Ein junger Arbeiter sagte: Wir sollten einfach weitermachen wie immer. Kurz darauf verkündete die österreichische Regierung ihre am Montag einsetzenden Notmaßnahmen.
    Montagmorgens spazierten wir über stille Straßen, an uns fuhren leere Straßenbahnen vorbei, Geschäfte hatten geschlossen, im Vogelweidpark und auf der Schmelz war es ruhig wie nie. Am Vortag warst Du sieben Monate alt geworden. Du hast ein neues Bett bekommen, das Beistellbettchen ist zu klein geworden. Wir erleben gerade, wie schnell drastische Maßnahmen ergriffen werden können. Wir hoffen, dass, wenn das Schlimmste überstanden ist, eine große Forderung erschallt: Dass es auf keinen Fall weitergehen soll wie immer.
    Kurz nach sieben Uhr abends betrat ich einen leeren Supermarkt. Deine Mutter wartete mit Dir vor der Tür. An der Kassa gab mir die Kassiererin ohne Erklärung fünfundzwanzig Prozent Rabatt auf jeden Artikel. Als ich es bemerkte, bedankte ich mich. Sie lächelte.

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