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- CHRONIK EINES AUSNAHMEZUSTANDS

Residenz-Autor*innen haben gebloggt. #alleswirdgut

    CHRONIK EINES AUSNAHMEZUSTANDS

    Sieben Wochen lang haben die Autor*innen des Residenz Verlags gemeinsam ihre „Chronik eines Ausnahmezustands“ geschrieben: Die unterschiedlichsten Blogbeiträge aus Stadt und Land, von Wien bis Abuja, von Leipzig bis London, von Graz bis Strasshof haben uns ermöglicht, in diesen schwierigen Zeiten miteinander im Dialog zu bleiben und voneinander zu lesen. Mit der Öffnung des Buchhandels Anfang Mai schließen wir unseren Blog. Ein Stück Normalität kehrt zurück, die Veränderungen durch den Ausnahmezustand werden uns aber noch lange begleiten.

    2. Mai 2020

    Thomas Weber, Strasshof


    Xaver, Achmed, Tränenmagd

    Sternschnuppe war es keine, aber irgendetwas am Himmel hat sich bewegt. Wir waren draußen, am Sportplatz, wo keine Lampen stören, und wollten den Satellitenkonvoi sehen. 60 neue Satelliten hat SpaceX vor ein paar Tagen in die Erdumlaufbahn schießen lassen. 44 hätten noch als leuchtender Rattenschwanz zu sehen sein sollen. Jeden Tag werden es ein paar weniger sein, die gemeinsam ziehen, weil sie sich umfassend verteilen. Wirklich schön zu sehen waren nur die Korona des zunehmenden Monds und die unermüdlichen Maikäfer, die dumpf gegen die Straßenlaternen anfliegen, immer und immer wieder. Hätte ich das Fenster gekippt, könnte ich sie immer noch hören. Bald werden sie kraftlos am Asphalt unter der Lampe liegen; ein gefundenes Fressen für die Igel. Es ist ein Maikäferjahr. Das war schon vergangene Woche klar, als noch die Weichseln blühten und sich, kaum, dass abends die Bienen ausgeblieben waren, die dicken Brummer am Nachthimmel abzeichneten. Ein paar Mal schon habe ich tagsüber eine Hand voll von ihnen zu den Hühnern in der Nachbarschaft gebracht. Wie Bestien stürzen die sich auf die Opfergabe, mit der ich das Gemüse vor den gefräßigen Engerling-Larven schütze. Hendl sind domestizierte Saurier, das ist offensichtlich. Mich reizen die Käfer aber auch. Zumindest, seit ich gelesen habe, dass sie früher von Konditoreien verzuckert und kandiert als Nachtisch verkauft wurden. Vielleicht wage ich mich ans Experimentieren.

    Das mit den Satelliten verdränge ich im Alltag. Das Verglühen eines Sterns empfinde ich als beruhigend, während das Wissen um tausende IT-Flugkörper da oben eher Unbehagen auslöst. Vermutlich sollte ich das ergründen.

    Genauer hin- und hinaufzuschauen vorgenommen habe ich mir, wenn ich – bald hoffentlich – wieder in der Stadt bin. Auf Instagram haben die beiden Stadtflaneure Gabriel Roland und Magda Hiller die vergangenen Wochen genutzt, um im „Museum des Hinaufschauens“ unter dem Hashtag #raufschauen Aufnahmen von künstlerischen Fassadengestaltungen von 1919 bis 1989 zu sammeln, vor allem, aber nicht nur, aus Wien. Viele der Mosaike oder Fliesenkunstwerke, stelle ich mir vor, müssen bunte Tupfer in der ehemals grauen Stadt gewesen sein. Ich hoffe, dass die beiden auch dann noch weitersammeln, wenn die wiedereröffneten Geschäftslokale den Blick zurück zur ebenen Erde lenken. Wien wäre in den vergangenen Wochen des Ausnahmezustands wie in den 80er-Jahren gewesen, habe ich irgendwo aufgeschnappt. Tot, ausgestorben, weder Lokale noch Nachtleben. Daran habe ich zuletzt gedacht als ich das neueste „The Gap“ in der Hand hatte. Mit einigem Aufwand hat die Zeitschrift eine kommentierte Liste der 100 wichtigsten österreichischen Popsongs erstellt. Solch eine Liste lädt nicht nur zum Wiederhören und Videosuchen ein, sondern auch zum Widerspruch. Auch abseits von persönlicher Befindlichkeit, Prägung und Betroffenheit: Irgendwas fehlt immer. Mir beispielsweise „Großvater“ von S.T.S.. Als ich die posthume Hymne an den Großvater, erschienen 1985, am Klo auf YouTube hörte, bewegte sie mich aufs Neue. Eine sentimentale Mischung aus Weisheit, Alltags- und Weltkriegsbewältigung. Wer Thomas Bernhard gelesen hat, wird bei einer Anrufung, einem ausformulierten Stoßseufzer wie „Kaunnst du ned owa kumman auf an schnölln Kaffee“ und „I möcht da sovü sogn, was i erst jetzt versteh“ auch an dessen Sentenz „Die Großväter sind die Lehrmeister“ denken. Und bei mir – Pop eben – wiederaufersteht dabei mein eigener Großvater. Der Song rührte mich auch deshalb immer schon zu Tränen, weil ich genau eine einzige Erinnerung an ihn habe. Frühkindlich verklärt wohl, aber er leuchtet wie eine Sonne. Ich bin drei, dreieinhalb vielleicht, suche im Heu nach gefärbten Eiern und Schokoosterhasen, darf auf dem losen Heu hinunterrutschen, er fängt mich lachend, mit offenen Armen auf. Immer schon habe ich diesen Song auf ihn projiziert. Er hat geraucht und war lange in russischer Kriegsgefangenschaft. „Wann du vom Kriag erzählt host / wie du am Russn / Aug in Aug / gegenüba gstanden bist. / Ihr hobt’s eich gegenseitig / an Tschik anboten / die Hand am Abzug / hat zittert / vor lauter Schiss“, singen S.T.S.. Wer wünscht sich nicht so einen Opa? Und das Gedankenexperiment, ein Gespräch mit einem lange schon Verstorbenen, bleibt faszinierend. Immer und immer wieder. Was man erzählen oder fragen würde, verändert sich schließlich über die eigenen Lebensphasen hinweg. Ich würde meinen fragen, was er als Kind oder Jugendlicher von der Spanischen Grippe gehört hat; weil mich wundert, dass diese weltumspannende Katastrophe gar nichts im kollektiven Gedächtnis hinterlassen hat. Wie unbegreiflich das ist, wurde mir erst dieser Tage bewusst, an denen man sieht, wie sehr die gemeinsame Ungewissheit, die vielen offenen Fragen, das Ringen um Antworten auch Gemeinsamkeit schafft. Womöglich würde es dafür mehr als einen schnellen Kaffee brauchen. Aber ich könnte mich nicht erinnern, im Geschichtsunterricht oder von meinen Großmüttern jemals etwas von einer Spanischen Grippe gehört zu haben. Auch an Romane oder fiktional Verfremdetes erinnere ich mich nicht. Ob das daran liegt, dass der Schrecken dieser Pandemie damals kein Gesicht hatte? Dass dafür keine Kaiserstatuen für Kriegsanleihen verscherbelt wurden? Dass dafür nicht über den Volksempfänger getrommelt wurde? Laura Spinneys Buch über „1918 – Die Welt im Fieber“ werde ich jedenfalls lesen. Ich habe es meinen Eltern bei seinem Erscheinen geschenkt und das Nachwirken der Lektüre veranlasste die beiden bereits im Februar, eine für dieses Frühjahr geplante Reise abzusagen; als ich sie noch für etwas gar vorsichtig hielt, für voreilig. Mir scheint es momentan schwer denkbar, dass zwei, drei Generationen ihre individuelle Zeitrechnung nicht an einem Vor und an einem Nach Corona ausrichten.

    Ein Glück jedenfalls für Verschonte, dass das Virus nicht als „Chinesische Lungenfäule“ in den Volksmund eingegangen ist oder als „Ischgl-Fieber“. Auch wenn ich mir unter solch einem Titel gut eine ORF-Fernsehproduktion vorstellen kann. Freitag, 23. Dezember 2022, 20.15 Uhr, ORF 1: „Die Seuche von Ischgl“, Drehbuch: Reinhold Bilgeri, Regie: David Schalko. Würde ich mir anschauen.

    Corona ist da ein vergleichsweise harm- und jedenfalls einfallsloser Name. Warum bekommen Sturmtiefs von Meteorologen auch heute noch Namen wie Xaver, Sabine oder Bonifaz – wo sich doch kaum mehr jemand an den Heiligen gewidmeten Kalendertagen orientiert; aus den digitalisierten Kalendern sind sie bereits ganz verschwunden –, während so ein Virus läppisch und unpoetisch nach einer Virusfamilie benannt wird?

    Bis wann wird es dauern, fragte ich mich vor ein paar Tagen, als ich im Wald eine morsche, vom Wind der vergangenen Nacht geknickte Eiche übersprang, bis wann wird es dauern, bis ein Wirbelsturm Achmed heißen darf, ohne dass das als ablehnend und abendländisch-identitär aufgefasst würde? Ein paar federnde Schritte weiter war ich gedanklich bei der kroatischen Bora und bei der „Tränenmagd“, jenem eisigen galizischen Westwind, der mir aus Karl Emil Franzos’ „Der Pojaz“ in Erinnerung geblieben ist.

    Bei jedem Waldlauf mache ich zwischendurch Halt und mache mir, im Stand weitertrippelnd, meine Notizen. Xaver, Achmed, Tränenmagd, lese ich dann zuhause. Manchmal jubeln mir der Schweiß, das Trippeln und die Autokorrektur Tippfehler unter. Aber so bekomme ich den Kopf frei. So arbeite ich auch an längeren Artikeln, notiere Fragen, interessante Interviewpartner. So entwickle ich Zugänge, ohne zu vergessen, so schreibe ich an Büchern. So schaffe ich es, zwischendurch die ökonomische Ungewissheit, die mich, wie so viele meiner Mitmenschen auch, besonders beschäftigt, hintanzustellen. Und so schaffe ich es, nicht nur über gefallene Bäume, sondern auch von Gedanken zu Gedanken zu springen, ohne en passant Aufgeschnapptes zu vergessen. Etwa den Geschmack von Käfern im Mund.

    Seit ein paar Tagen wimmelt es im Wald nur so vor fliegendem Getier. Vögel wüsste ich beim Namen zu nennen. Ich meine Insekten. Und weil meine Lippen offenbar nicht ganz schließen, wenn ich über Stock und Stein trample, wären die in meinen Mund verirrten Viecher auch nicht mehr identifizierbar, selbst wenn ich es schaffen sollte, sie noch als Ganze und unzergatscht mit dem Finger herauszuholen. Ich habe deshalb begonnen, zu differenzieren und nach Worten für die unterschiedlichen Nuancen der Bitterkeit zu suchen. Käferartig ist mir als Attribut zu allgemein, wenn ich merkbar verschieden Schmeckendes zu erkennen meine.

    Wirklich überzeugen konnte ich mich allerdings von keiner der Zuschreibungen. Kribbelig im Abgang wären die Tiere wohl alle. Auch kaum eines der Worte, mit dem man beim Wein- oder Biertrinken um sich wirft, hilft, wenn wir von Käfern sprechen wollen. Wobei das größte Problem natürlich das Wir bleibt. Selbst wenn ich mir ein Vokabular erarbeite: Mit wem könnte man solcherlei Wortschatz schon teilen? Wer, mit dem man sich darüber austauschen könnte, unterscheidet schon Käfer nach ihrem Geschmack? Andererseits geht all den zoologischen Bestimmungsbüchern und anwendungsfreundlichen Apps wahrscheinlich Wesentliches ab, wenn darin der Geschmack des Beschriebenen fehlt. Immerhin sind, wenn wir von Käfern sprechen, die meisten Insekten ja nicht nur schön, schillernd oder segmentiert, sondern vor allem auch Nahrung für Vögel und Igel, für Hasel- und Fledermäuse.

    Mir ist klar: Wer solche Gedanken nicht nur hegt, sondern auch ausspricht, wird seiner Umwelt schnell eigentümlich und skurril erscheinen. Soll so sein, denke ich mir. Besser schrullig und eigen als irgendwann zynisch und verbittert. Und vielleicht versuch’ ich es zum Nachtisch wirklich einfach mal mit kandierten Maikäfern. Ich tippe auf erdig und süß.

    Thomas Weber

    1. Mai 2020

    Barbara Frischmuth, Altaussee


    CORONA hoch unendlich

    Wenn ich morgens mein IPad öffne, dominiert Corona, wenn ich mittags die Nachrichten höre, höre ich fast nur über Corona, wenn ich abends den Fernseher einschalte, ist es noch immer Corona – flächendeckend. Sich Corona zu entziehen ist unmöglich.

    Dennoch versuche ich, zumindest so lange ich nicht selbst infiziert werde, mich von Corona nicht beherrschen zu lassen, von diesem Untoten, der sich sein Leben von anderen borgen muss, unangenehm und gefährlich, und den man nicht unterschätzen darf.

    Dabei habe ich gut lachen, keine Enkel, die ich gerne bei mir hätte, aber nicht dürfte, keine verordnete Einzelhaft, es sei denn die freiwillige vor einem Schreibgerät, kein Weggesperrtsein, sondern vernünftiger Verzicht auf leibliche Kontakte. Eine Landschaft mit vielen Spazierwegen, auf denen kaum einer geht, und last but noch least einen nicht zu kleinen Garten, der mich absolut fordert, sobald ich auch nur zum Fenster rausschaue. Ein Blick genügt, um mindestens drei Baustellen auszumachen, die zu bearbeiten in den nächsten Stunden dringend vonnöten wären. Und damit ich nicht nur meinen diesbezüglichen Verpflichtungen nachkomme und auch etwas von ihm habe, bietet der Garten mir jede Menge essbarer Beikräuter (political uncorrect: Unkräuter) an, vom invasiven Giersch, über den zackigen Löwenzahn, das zarte rundliche Grün des Scharbockskrauts (so noch nicht vergilbt und vertrocknet), die leicht runzligen Blätter des Wiesenknöterichs sowie die der ebenfalls runzligen Schlüsselblumen bis hin zum haarigen Beinwell, den aggressiven Brennesseln und dem glänzendblättrigen Bärlauch.

    Wozu ich in den letzten Jahren nie Zeit fand, nämlich diese sogenannten naturbelassenen Nahrungsmittel roh oder blanchiert, geschnitten oder püriert zu essen, gehört jetzt zu den Mahlzeiten. Ich teste sie alle auf ihre Verträglichkeit, mit den üblichen Ergebnissen, und werte sie im Gespräch mit anderen damit auf, dass diese Art von hyper food in keinem Supermarkt angeboten wird, weil zu arbeitsintensiv. Schließlich muss man es sich aus den kaum gejäteten Beeten selber holen.

    Für mich ähnelt Corona einem Kometen, den die Astronomen übersehen haben und der nicht vorbeigeflogen ist, sondern auf unserer Erde eine Bruchlandung hingelegt hat, die die Astronomen und uns Erdbewohner noch lange bedrängen wird.

    Wer oder was hat diese Bruchlandung ausgelöst? Die überdimensionalen CO2- und Methangasausstöße? Unsere industrialisierte Landwirtschaft mit ihren Monokulturen und bedrohlichen Giften, die immer wieder mit neuem Namen auf den Markt kommen, damit wir ja nicht gleich feststellen können, in was wir beim Essen beißen? Oder hängt alles mit dem Zuviel zusammen, das zu Abfall wird, ohne unserem Mikrobiom je begegnet zu sein? Oder mit der rücksichtslosen Ausbeutung aller Ressourcen unseres Planeten, ohne in Betracht zu ziehen, dass diese endlich sind?

    Michel Serres, Begründer einer philosophischen Ökologie, hat bereits 1994 in seinem Buch ‚Der Naturvertrag’ einen solchen eingefordert und damit einen anderen Umgang mit der Welt, respektive mit dem ERD-PLANETEN. „Jene, die heute die Macht unter sich aufteilen, haben eine Natur vergessen, von der man sagen könnte, dass sie sich rächt.“ Und weiter: „Gerade in dem Augenblick, da wir zum ersten Mal physisch auf die globale ERDE einwirken und sie fraglos auf die globale Menschheit zurückwirkt, vernachlässigen wir sie auf tragische Weise.“

    Darüber nachzudenken, lässt Corona auf ein Symptom unter vielen schrumpfen. Zum Glück gibt es Ärzte, die auch noch Biologen und Pathologen sind, die sich dem globalen Dilemma mit wesentlich breiter gestreuten Symptomen als jenen von mutierenden Viren (die aber möglicherweise auch damit zusammen hängen) widmen.

    Ich meine damit vor allem Martin Grassberger und sein Buch „Das leise Sterben“, das uns mit seinen Thesen zu den häufigsten nicht übertragbaren Krankheiten, die weltweit insgesamt mehr Todesfälle generieren als Corona, vor Augen führt, wie sehr wir von dieser von uns so vernachlässigten Natur abhängig sind.

    Ich gebe zu, dass dieses Buch mich mehr beschäftigt als das Corona-Virus mit all seinen Tücken, das aber nur eines der Symptome darstellt, die wir Erdbewohner uns eher willentlich als wissentlich eingebrockt haben.

    Barbara Frischmuth

     

    Ursel Nendzig, Wien


    Video-Telefonie mit dem vielen Herumschreien halte ich kaum noch aus, normale Telefonie dafür noch sehr gut. Mit Kopfhörern, nebenher erledige ich Dinge, da kann sich so ein Gespräch auch mal eine Stunde oder länger hinziehen. Ich habe beobachtet, dass diese langen Gespräche immer dem gleichen Muster folgen.

    Die ersten Minuten kratzen wir an der Oberfläche. Wie geht’s euch? Eh gut und euch? Eh auch gut.

    Es folgt der (vorgeschobenen) Grund des Anrufes. Gibt es schon eine Entscheidung wegen des Sommerurlaubs? Wie verheilt die Gipshand? Wollte eigentlich nur der Kleinen zum Geburtstag gratulieren. Können wir uns euren Kompressor ausborgen?

    Dann wird es spannender, wir kommen zum Meinungsaustausch, man könnte Lästern sagen. Hast du bitte diese unsäglichen Fotos auf Instagram gesehen? Ich musste mir eine geschlagene Stunde das Gejammer von meiner Großtante anhören. Die Leute checken einfach immer noch nicht, worum es geht.

    Wir kommen jetzt langsam ans Eingemachte. Wenn er mir noch einmal die gleiche G‘schicht erzählt, muss ich ihm was antun! Es geht mir so am Oarsch, dieses Homeschooling und überhaupt bleibt alles an mir hängen zurzeit. Ich bin schon so blad vom ganzen Alkohol, einen Liter Eierlikör hab ich an zwei Abenden vernichtet. Ich hab mir seit drei Wochen die Achseln nicht rasiert, schaut lustig aus, aber jetzt muss ich eh wieder, weil langsam ist Trägerleiberlzeit.

    Zum Schluss, das Telefonat nähert sich der Ein-Stunden-Marke, sind wir endlich beieinander angekommen. Wie lang schaffen wir das noch mit so wenig Geld? Die Teenager diskutieren so viel mit mir, ich hab Angst, ich brech bald zusammen. Manchmal geh ich aufs Häusel, eine rauchen und weinen, dann geht’s wieder. Beim letzten Donauinselfest hat die Kleine einen nackerten, schwitzerten, besoffenen Mann mit einem „Free Hugs“-Schild umarmt, einfach so. Was, wenn das nie wiederkommt?

    Ursel Nendzig

    30. April 2020

    Kurt Kotrschal

     

    Coronablues

    Der erwischt nun selbst den gartenurlaubenden Ruheständler. Es geht ja nicht darum, wie wild in Österreich und Europe umherreisen zu müssen; aber der Unterschied zwischen nicht tun und nicht dürfen drückt immer mehr aufs Gemüt, allen gedeihenden Salatköpfen und blühenden Apfelbäumchen zum Trotz. So harrt der Fiat Ducato Camper vergeblich seines Einsatzes. Der Reisemaschine wird das freilich wurscht sein.
    Die aufgekratzte Stimmung der sechswöchigen Askeseübung verebbt, und mit ihr das naive Gefühl, dass alles besser wird im Lande. Natürlich muss einem der typische Krisenreflex des Zusammenrückens und der Solidarität gefallen, aber wie lange wird der vorhalten? Schon fährt die kleingeistige Parteipolitik wieder hoch, und auf gefährdete Wildtiere wird mehr denn je geschossen. Auch weil Wildschweine nun in der Nacht ganz legal mit Hilfe von Wärmebild-Zielgeräten gejagt werden dürfen.
    Das ist sicherlich in Ordnung, um der sich exponentiell vermehrenden Schweine Herr zu werden. Aber wer weiß, was da nun im Dunkeln gleich noch mit „weggeräumt“ wird? Eben protestierte der NÖ Jagdverband gegen ein EuGh Urteil, wonach der Frühjahrsabschuss der gefährdeten Waldschnepfen einzustellen sei, weil er gegen internationale Artenschutzabkommen verstößt. Artenschutz ist also immer noch keine Selbstverständlichkeit.

    Und was geschah mit zwei der drei Wolfsrudel im nördlichen Niederösterreich? Eine augenzwinkernde Beziehung zum Rechtsstaat ist offenbar kein Privileg der coronären Bundesregierung. Das Virus hilft nicht gegen Schlawinertum.
    Natürlich erfreuen auch positive Einsichten: So wurde durch Corona der Wert einer international vernetzten, Daten und Wissen frei austauschenden, öffentlich finanzierten Grundlagenforschung offensichtlich. Gut so, denn die Biosphäre und Menschheit bedrohenden ökologischen, epidemiologischen und politischen Traumata werden nur evidenzbasiert zu lösen sein. Dafür braucht es das volle Spektrum der Wissenschaften und die Bündelung ihrer Erkenntnisse. Egal, wie scharf die Verteilungskämpfe nun sein werden: Jedes zukünftige Sparen an der Forschung wäre fatal.
    Seltsam ist das Verhalten der Universitäten in der Krise. Obwohl beim Forschen im Labor Hygiene- und Abstandsregeln einfach einzuhalten sind und bei Freilandprojekten die Ansteckungsgefahr gegen Null geht, wurden mit dem Shutdown die Forschenden einfach ausgesperrt. Damit stellten die Unis obrigkeitliche Formalismen über die Wissenschaft als ihre eigentliche Mission. Sie verrieten die Forschenden, deren Projekte und den exzellenten Nachwuchs, dem dieser Notstopp teils Jahre kosten wird, weil man viele Projekte nicht so einfach wieder hochfahren kann. Die Botschaft ist, dass Forschung nicht wirklich essentiell sein kann, wenn man sie derart bereitwillig und ohne rational begründete Not einstellt.
    Erschreckend auch, dass sich dies die Forschenden ohne viel Protest gefallen lassen. Die intellektuelle Elite des Landes sollte als kritisches Salz der Zivilgesellschaft sachlich und politisch dazu in der Lage sein, jene Herausforderungen der Zukunft anzugehen, gegen die Covid-19 ein Mailüfterl bleiben wird. Ihr braver Konformismus lässt bezweifeln, dass sie das schaffen werden. Corona wird (irgendwann) gehen und wir werden immer noch gegen den Klimawandel, den Verlust der Biodiversität und gegen jenes obrigkeitshörige Duckmäusertum im Lande kämpfen, welches wohl Demokratie und Problemlösungsfähigkeit am meisten bedroht.

    Kurt Kotrschal

     

    Robert Streibel, Wien

     

    Helfen Winterbienen gegen Corona?

    Gestern Abend habe ich ein Gegenmittel versucht. Nein, ich habe nicht, wie Trump vorgeschlagen hat, Desinfektionsmittel getrunken, sondern es mit Literatur versucht. „Die Winterbienen“ von Norbert Scheuer. Ein Tagebuch über das Kriegsende, in dem auch Bienen eine Rolle spielen, ist natürlich für mich ein Muss. Es gibt immer etwas, dass noch schlimmer ist als das Jetzt, nämlich der kalte Winter im Februar 1944 und die Bedrohung des entfesselten Wahnsinns der Nazis. Mein Mittel hat fast besser geholfen als ein Whisky.
    Aber in der Früh höre ich Crona-Prognosen schon wieder im Morgenjournal und das ist kein Beginn für einen Frühlingstag. Wir werden uns im Freien treffen können, den Sommer über in Maßen, aber im Herbst ist die Wahrscheinlichkeit eines zweiten Lockdown sehr hoch. Der Bote kann nichts für die Botschaft und die Analyse klingt glaubwürdig.
    Da die „Winterbienen“ am Morgen nicht helfen, versuche ich es mit einer Liste. Nicht alles ist nur mehr digital. Ich beginne und muss sofort eine Einschränkung machen, außer meiner Frau ist der Rest der Familie digital, ArbeitskollegInnen gibt es nicht mehr, wenn ich nicht ein paar Schneider der Nähwerkstatt und ihre Helferinnen in der VHS sehen würde, ich wüsste nicht mehr, wie das ist, mit Menschen umzugehen. Es gibt noch eine Gärtnerin vom Verein Gemeinsam im 13 und Günther, den Mann im Hinter- und Vordergrund, zuletzt habe ich sogar eine Kollegin der Bücherei gehört und kurz gesehen. De VHS Hietzing ist sich selbst überlassen. Die Bienen am Dach schert das Virus herzlich wenig, die haben ihr eigenes Virus - die Varroa Milbe -, aber die hat unser Imker gut im Griff. Die Liste mit den digitalen Kontakten ist länger als ich dachte.
    Und ich gebe zu, jede Gelegenheit wird von mir genutzt, um nach Kontakten Ausschau zu halten, also Menschen zu beobachten, denn das ist das Einzige, was uns bleibt. Wir gehen uns ja aus dem Weg, und wer sich weiträumiger aus dem Weg geht, ist der bessere Mensch.
    Wir leben also in einer sonderbaren Zeit, wo sich gut gekleidete ältere Damen, richtige Ladies mit Kostüm und Schuhen, die fast als High Heels durchgehen könnten, in der passenden Farbe natürlich, die Haare toupiert, als ob der Friseur schon geöffnet hätte, angeregt und nett mit einer Straßenverkäufern, die ohne Schuhe irgendwo bei der Kettenbrücke sitzt, unterhalten, als wären sie bei einem Kaffeeplausch mit Abstand.
    Wenn das eine Folge der Krise wäre, das könnte ja fast ein Hoffnungsschimmer sein.
    Ich gebe zu: Bis ich mit den ungarischen Obdachlosen plaudere, die sich vor unserem Haus jeden Morgen treffen, muss die Krise noch etwas dauern. Aber so ist das, jeder hat „seinen“ Obdachlosen und die Spargelbauer haben „ihre“ Rumänien. 
    „Meine Obdachlosen“ sind die von der VHS, sie sehe ich nur mehr selten bis gar nicht. Kein Wunder, unser WC ist nicht benützbar, und der Mann, der üblicherweise bei uns im Straßenbahnhäusl sitzt und ein Bier nach dem anderen trinkt, unser WC benützt und dann beim Hinausgehen mit unserem blauen Fisch im Aquarium spricht, ist jetzt ganz verschwunden. Das Haus ist geschlossen auch für Frau Petrowitsch, die sich jeden Morgen aus dem Humana Container eingekleidet – sie ist eine verkappte Modedesignerin aus Brooklyn, würde ich meinen, wäre da nicht der etwas strenge Geruch. Sie schaut nach unseren Büchern und ruft mit einer schnarrenden Stimme im Foyer nach „Päta“ und sucht ihren Peter. Wenn sie das Haus betritt, rieche ich das oben im 2. Stock. Wann werde ich die „Päta“-Rufende wieder riechen in der Volkshochschule? 
    Phare du Petit Minou

    Robert Streibel

    29. April 2020

    Gunther Neumann, Wien


    Lange haben wir die aufkeimenden Frühlingsgefühle gezähmt. Jetzt also nähert sich der langsame Ausstieg, oder Wiedereinstieg, um es positiv zu formulieren - in eine „neue Normalität“. Das klingt unangenehm nach „Schöne Neue Welt“. Wie wird sie aussehen, sich anfühlen? Zukunftsforscher sind ja in Krisenzeiten gefragte Leute. Allerdings erinnere ich mich kaum an tatsächlich wahr gewordene Prophezeiungen. "Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen": Egal ob von Mark Twain, Tucholsky, Churchill oder Karl Kraus - witzig und geistreich ist der Satz noch immer. Gewiss, in Zukunftsszenarien finden sich manchmal Vorhersagen, die tatsächlich eintreten. Corona hat keiner vorausgesehen. Ich mache das niemandem zum Vorwurf. Wir sind aus der Sorglosigkeit recht übergangslos in den Schrecken getaumelt.

    Literarisch fallen mir ein paar Hellsichtige ein, Aldous Huxley eben, George Orwell, visionäre Romanciers, feinfühlige Seismographen unserer Befindlichkeit, unserer menschlichen Anlagen und Schwächen. „Eine Art intuitive Voraussicht, ein Überblick und Weitblick, der gute Romane zeitlos macht“, sagt eine Rezensentin über ein rezenteres Buch. Selbst habe ich mir nie Prognosen zugetraut, nicht über die Welt, nicht über mich selbst. Ich habe meine Kinder nicht vorausgesehen, meine Lebenspartnerin, meine Freunde, kaum meine Berufe, nicht einmal das Land, in dem ich einmal länger leben würde. Selbst meine nächtlichen Träume haben weniger mit meiner Zukunft zu tun als mit meiner Vergangenheit oder meiner Gegenwart; manchmal mit meinen Ängsten, Fehlern, Schwächen. Bestenfalls helfen mir meine Nachtträume, zu spüren, was ich vielleicht wegschiebe. Sie sind ein Dschungel-Biotop mit wenig ausgeleuchteten Sumpfstellen, selten wilden Tieren, gelegentlich bunten Papageien. Kristallkugeln für die Zeit „nach Corona“, mit den virulenten neuen und weiter drängenden alten Herausforderungen sind sie keine. Auch wenn Pessimismus manchmal realistisch erscheint - Sorgen kommen mir manchmal vor wie archaische Festungen: eine hohe Mauer, dahinter ein Abgrund. Möglichkeitsräume müssen wir uns auch selbst schaffen. Und da helfen mir auch manche Träume.

    Gunther Neumann

    28. April 2020

    Tina Pruschmann, Leipzig


    Winkekatzenjammer

    Wie viel ist ein Meter fünfzig? Reichen zwei Armlängen? Oder lieber noch eine halbe dazu? Seit einer Woche und ein paar Tagen gelten die neuen Kontaktregeln. Unter Einhaltung des Abstandsgebots ist es nun erlaubt, einen Menschen zu treffen, mit dem man nicht zusammenlebt. Seitdem gleichen die Nachmittage ein wenig Einzelvisiten mit Freund:innen. In Zeiten vor der Pandemie begann eine solche Verabredung mit einer herzlichen Umarmung. Die Umarmung als Grußgeste im Privaten hatte sich in den vergangenen Jahren auch im Osten der Republik gegen das distanzierte Handgeben durchgesetzt. Sogar unter Männern, wobei das männliche Umarmen oft eher einem beherzten Abklopfen gleicht, das gern mit einem Händeschütteln verbunden wird, ein eleganter Weg, um für Distanz in der Umarmung zu sorgen. Soziologisch gesehen dienen Begrüßungsrituale der gegenseitigen Versicherung, in friedfertiger Absicht unterwegs zu sein. Es gilt: Je näher, desto vertrauter, desto geringer die Gefahr. Bezeichnenderweise ist eine Umarmung ja nicht nur Eröffnungsakt eines geselligen Aufeinandertreffens, sondern auch eine Geste des Beschützens und Schutzsuchens. Die Pandemie aber stellt die Dinge auf den Kopf: Räumliche Isolation verspricht größeren Schutz als die Arme eines Freundes oder einer Freundin und das Winken aus der Einen-Meter-fünfzig-Ferne hat zumindest vorerst die Begrüßungsumarmung ersetzt. „Wir sehen aus wie diese japanischen Winkekatzen“, beschrieb es eine Freundin kürzlich. Meist begleitet dieses Begrüßungswinken ein merkwürdiges Aufeinanderzu- und Voneinanderwegschwanken. Wie viel ist ein Meter fünfzig? Reichen zwei Armlängen? Die eingebübten „Zärtlichkeiten mit Freunden“ (ich zitiere den Namen eines großartig kasparetten sächsischen Musik-Duos) sind aus dem Takt geraten und wir merken, dass der Körper doch träger ist als der Geist. Und schlauer. Uns fehlt das Sensorium dafür, wie wir uns pandemiegemäß zueinander anordnen sollen. Zwei Armlängen schaffen einen Raum zwischen uns, der leer ist, er sagt uns nichts, er lässt uns weder Liebe noch Fürsorge fühlen. Winkekatzenjammer, also. Vorerst müssen wir uns wohl damit begnügen, uns daran zu erinnern, wie es war. Davor. Und je länger die Krise andauert, um so mehr kommt es auf dieses Erinnern an, wenn der Körper träge und die Umarmung begehrlich bleiben sollen. In diesem Sinne, fühlt euch alle herzlich umarmt.

    Tina Pruschmann

     

    Robert Streibel, Wien


    Saugen mit Anstand und Würde

    Rituale sind der Goldstaub des Alltags. Das Ewiggleiche lässt uns das Zeitgefühl verlieren. Es genügt nicht, am Samstag Semmeln zu essen und am Montag die Woche mit Müsli zu beginnen. Berater und Coaches geben jetzt gute Tipps, wie wir alles besser machen können, damit wir nicht verzweifeln. Wir müssen dem Alltäglichen das Besondere geben. Es braucht aber noch mehr, es braucht eine Inszenierung. Die Hygiene wird jetzt bei uns zu Hause ganz groß geschrieben.
    Meine Aufgabe ist das Staubsaugen. Seit einiger Zeit lege ich immer eine CD auf und spiele alle Variationen der Marseillaise. Dann fühle ich mich, als wäre ich im Krieg gegen das Virus. In Frankreich wurde dieser Krieg ausgerufen, in der Zwischenzeit gibt sich der Präsident kleinlaut und würde lieber mit dem kleinen Besen unauffällig Gutes tun wollen. In Frankreich gibt es keine Flotte mehr, aber ich habe immer noch meinen Staubsauger, und jetzt ist es ein beglückendes Gefühl, über den Teppich zu fahren und zu hören, wie die Brösel aufgesaugt werden, dieses Gurgeln wie von einem, der im Nahkampf mit dem Bajonett erledigt wurde. Wenn ich die Bürste abnehme, dann wird das Rohr teuflisch, fast lebensgefährlich für jede Ecke und den Lurch, der dort im Hinterhalt lauert. Heute ist Kampftag, und ein Zimmer muss ich noch befreien, mein Staubsauger wartet schon. „Aux armes, citoyens, Formez vos bataillons, Marchons, marchons!“ (Zu den Waffen, Bürger, Formiert eure Truppen, Marschieren wir, marschieren wir!)

    Robert Streibel

     

    27. April 2020

    Judith Brandner, Königstetten


    An meiner Schreibtischlampe hängen zwei O-mamori. Immer, wenn ich hier sitze – also täglich –, sehe ich sie vor mir baumeln. Und immer, wenn mein Blick darauf fällt, geht mir das Herz auf. Es sind kleine Säckchen aus orangefarbener bzw. grauer Seide mit goldenen Schriftzeichen und Ornamenten, verschlossen mit einem weißen, zu einer Masche gebundenen Bändchen. Ich habe sie vor langer Zeit von lieben Menschen in Japan bekommen, die mir auf diese Weise ihre Gefühle und ihre Wertschätzung ausgedrückt haben. Was in diesen Beutelchen drin ist, bleibt ein Geheimnis, denn man darf sie nicht öffnen. Auf jeden Fall ist es etwas Gutes, glückbringende Wünsche für Erfolg in Beruf oder Studium, sichere Geburt, Schutz im Straßenverkehr. Die schützende Hand der Götter. Und nun also auch der Schutz vor Corona. O-mamori sind, so höre ich, in Japan dieser Tage gefragter denn je. Am O-mamori zeigt sich der japanische Synkretismus: Sowohl Shinto-Schreine als auch buddhistische Tempel verkaufen die Talismane. Eigentlich sollte man sie ein Jahr nach Erwerb oder Erhalt verbrennen, und neue kaufen. Meine hängen seit Jahren da und sie schützen mich noch immer. Es geht mir doch gut, inmitten dieses globalen Experiments, von dem wir noch nicht wissen, wohin es uns führt, und wofür es dient.

    Und schon erzeugt die Angst vor der unsichtbaren Gefahr eine Kluft zwischen den einen, die den offiziellen Verlautbarungen blind vertrauen, und den anderen, die ihre Zweifel daran haben und kundtun. Schon vernadern die einen die anderen. Schon gibt es Streitgespräche in den eigenen Familien über das, was zu tun und zu lassen ist. Wir sind Laien auf dem Gebiet der Medizin und der Virologie. Wir sind Laien auf dem Gebiet der Radioaktivität. Wir müssen uns an die Expert*innen halten. Die Parallelen sind unübersehbar: Aus noch zu analysierenden Gründen tendieren wir zu den einen oder anderen Expert*innen. Die Corona-Angst ist schlimmer als das Virus selbst, hat der Chef der Luxus-Elektroautofirma gemeint. Die Angst vor der Radioaktivität ist schlimmer als die Strahlung selbst, hat ein hochrangiger Arzt in Japan Bedenken zu zerstreuen versucht. Vielleicht ist ja das Spiel mit der Angst ein Teil des Experiments.

    Judith Brandner

    25. April 2020

    Kaśka Bryla, Leipzig


    „Logisch“, antworte ich, als mich Olivia fragt, ob ich sie morgen in die Corona-Ambulanz fahre. „Und die Überweisung? Holst du die auf dem Weg zu mir ab?“ – „Sowieso“, bestätige ich. Wir haben denselben Hausarzt und ich möchte mir ohnehin einen Termin für ein großes Blutbild ausmachen. Ein bisschen neugierig auf diese Corona-Ambulanz bin ich auch. Niemand weiß, wo sie ist. Irgendwo am Stadtrand, wird gemunkelt.
    Fast leer ist das Wartezimmer des Hausarztes. Die, die da sind, sehen recht fit aus. Um das Pult der Ordinationshilfe ist eine Wand aus Plexiglas gespannt.
    „Ich bin wegen der Überweisung für Olivia hier“, verkünde ich. Die Ordinationshilfe sieht mich entgeistert an. „Da kommen Sie rein?“ Meine Einweghandschuhe und der Schal beeindrucken sie kein bisschen.
    „Äh?“, mache ich.
    „Sie hätten anrufen können! Dann hätte ich Ihnen die Überweisung hinaus gebracht.“ Ihre Strenge schüchtert mich ein. Warum sind Ordinationshilfen immer Frauen? Die wenigen Wartenden sehen mich auch anklagend an. Zumindest glaube ich das.
    „Die ist aber doch nicht für mich“, rechtfertige ich mich ungläubig. Denn ich stehe im Eingangsbereich in Vollmontur. Zwischen uns das Plexiglas.
    „Aber für Ihre Freundin“, argumentiert die Ordinationshilfe. Unsicher, ob sie meint, Olivia und ich seien ein Paar, überlege ich hektisch, welchen Teil ich klarstellen soll.
    „Die habe ich zuletzt vor vier Wochen gesehen.“ Jetzt schaut sie nicht mehr ganz so streng. Mich in Sicherheit wiegend, füge ich hinzu: „Und einen Termin für ein Blutbild will ich machen.“ Corona ist das neue AIDS, denke ich und unterschlage den Lungenfunktionstest, den ich ebenfalls machen wollte. Auch den Antikörper-Test erwähne ich besser nicht. Oder, dass ich, als ich glaubte, den Virus zu haben, nicht hergekommen war. Theoretisch könnte ja jede und jeder in diesem Wartezimmer Covid-19 haben.
    „Das ist keine gute Zeit!“, antwortet sie, wieder ganz die alte. Ich sehe mich noch einmal im Wartezimmer um, als hätte ich mich vorher verzählt. Fünf Menschen. „Nicht?“, frage ich.
    „Sie bringen Ihre Freundin ja jetzt in die Corona-Ambulanz.“ Ich überlege, wer Olivia denn sonst hinbringen soll. Eltern sind raus (zu alt). Mitbewohnerin hat kein Auto. Für Öffis ist sie zu schwach. Und die Taxifahrerin möchte ich sehen, die sie mit „zur Corona-Ambulanz, bitte“ einsteigen lässt. „Da brauchen Sie gar nicht zurückkommen“, sagt die Ordinationshilfe.
    „Äh?“, mache ich wieder. Und weil ich noch immer so da stehe und sie ansehe, sagt sie schließlich: „Außer der Test ist negativ. Dann schauen wir wegen dem Blutbild.“
    Die Corona-Ambulanz ist ein Container am Ende der Welt. Erst muss man durch eine Schranke. In einem Wachhäuschen sitzt ein Mann. Im Fenster hängt ein Zettel: Nur mit gültiger Überweisung. Olivia fächelt mit der Überweisung. Aber er kommt eh nicht raus, um die Gültigkeit zu überprüfen. Winkt uns durch. Überall sind Schilder aufgestellt. CORONA-Ambulanz. Als würde man der Apokalypse entgegensteuern. Auf den letzten Metern fahren wir an zwei Menschen vorbei, die den Weg zu Fuß zurücklegen. Ein ganz schöner Spaziergang für jemanden, die oder der krank ist. Dann endlich der Container. Davor ein Parcours aus Eisengittern und Leere. Ich überlege, wo ich parken soll, und bleibe einfach mitten auf der Straße stehen. Während ich auf Olivia warte, tuckert ein volles Polizeiauto vorbei. Sie sehen mich an. Es gibt ja sonst nichts. Aber wer wird sich hier schon über Halten und Parken streiten?
    „Und, und?“, frage ich, sobald sie wieder im Auto sitzt. „Drei Menschen in Ganz-Körper-Schutz haben meine Daten aufgenommen. Den Abstrich. Bis Montag bekomme ich Bescheid, sollte er positiv sein. Sonst nicht.“
    „Aha“, sage ich und starte das Auto.

    Kaśka Bryla

    24. April 2020

    Robert Streibel, Wien


    Nächstes Jahr in Jerusalem

    Ich habe meine Vorsätze gebrochen. Nach einem Tag schon muss ich mir eingestehen, dass das in der jetzigen Zeit nicht möglich ist. Ich meine nicht die Bewegungsarmut, die ein Indikator für die wirkliche Armut sein wird, ein Vorbote sozusagen. Dass ich in der Früh nicht geturnt habe, ist es nicht.
    Homeoffice verändert alles, die Grenze zwischen Büro und Freizeit verschwimmt. Das mit der Fünftagewoche, das war einmal, jetzt, wo das Handy alles ist, kann nach dem Radiohören ja auch gleich die Mailbox durchsucht werden.
    Mein Vorsatz war aber ein anderer, ich wollte eine Tagebuchpause einlegen. Weil es außer junggrünen Buchenwäldern und grünem Spargel nicht viel zu berichten gibt. Dachte ich. Und dann habe ich gemerkt, dass wir vielleicht in diesen Tagen schneller altern. Das könnte schon sein, denn Sentimentalität ist eine Frage des Alters, und jetzt ist es soweit. Fünf Wochen Quarantäne und uns wird langsam so richtig klar, was das alles zu bedeuten hat.
    Als wir im frischen Grün der Buchenwälder Richtung Tulbingerkogel wandern, hören wir den Klassiktreffpunkt, zwei israelische Musiker, Sharon und Ori Kam, interviewt von Albert Hosp, und dann wird Zubin Mehta eingespielt aus New York, er hätte in Wien in diesen Tagen dirigieren sollen. Wann wird er wiederkommen, in ein, zwei Jahren vielleicht? Er meint scherzhaft: Die Koffer sind gepackt. Pessach ist vorbei und am Ende heißt es immer „Nächstes Jahr in Jerusalem“, jetzt bekommt dieser Spruch eine andere Bedeutung, alles ist irgendwie in der Zukunft, und es ist nicht sicher, ob es passiert. Das darf einem auch im frischen Grün Tränen in die Augen zaubern.
    Und als ob das nicht genug wäre, bekomme ich dann ein Video, diese Videos sind wie eine Seuche, manche sind witzig, manche tiefgründig, manche gut genug für ein kurzes Lachen. Doch dieses offenbart einen Kern der Ernsthaftigkeit und einer traurigen Fröhlichkeit, spielerisch wird hier das Wesen der Kunst gezeigt und klargemacht, was wir vermissen: Tänzerinnen und Tänzer der Pariser Oper üben und tanzen zu Hause.
    So, jetzt ist es geschafft. Nach fünf Wochen liebe ich auch das Ballett. Und wenn die Staatoper mit einem Ballettabend eröffnet würde, das würde uns nicht abhalten, hinzugehen.
    Nein Sentimentalität ist keine Frage des Alters, aber beim Konzert für Österreich werde ich trotzdem einige Mal tief durchatmen müssen. Ich hoffe nur, dass die Sängerinnen und Sänger nicht zu jenen gehören – wie Franz Welser-Möst in einem klugen Interview gemeint hat -, deren Agenten jetzt schon höhere Gagen für die Zeit nach Corona verhandeln, während die, ohne die der Betrieb der Oper nicht funktionieren würde, wenn sie Glück haben, nachher gerade noch einen Job haben werden - oder eben nicht. 

    Robert Streibel

    23. April 2020

    Ursel Nendzig, Wien


    Videokonferenz

    Am Sonntag haben wir drei Geschwister versucht, unsere Eltern zu einem Skype-Meeting zu bewegen. Dann könnten sie die insgesamt sechs Enkerln einmal sehen. Sie wollten nicht. Sie würden ja eh wissen, wie wir ausschauen und auch diese ganze Technik.
    Ich war erst überrascht, dann war es mir peinlich, es überhaupt vorgeschlagen zu haben, so spektakulär sehen wir auch wieder nicht aus. Und auch in normalen Zeiten vergehen Wochen, eher Monate, bis wir uns begegnen - zwischen uns liegen 650 Kilometer, viel zu weit, um für ein Wochenende hinzufahren.
    Mir geht es überhaupt schon auf die Nerven, Leute auf Bildschirmen zu sehen. Anfangs fand ich das aufregend, vor allem, in die Wohnungen zu spechteln, die man sonst nicht betritt, von Arbeitskolleginnen oder Lehrerinnen der Kinder. Aha, die haben den Ikea-Expedit- Kasten in Holzoptik, wir in weiß. Schau her, die Küche ist aber aufgeräumt und ist das ein Smoothie-Maker? Wie scheußlich darf ein Bild eigentlich werden, bis es niemand mehr über seiner Couch hängen haben will, haha, und noch mehr haha, weil der Mann im Hintergrund hat keine Hose an, voll lustig.
    Mich juckt es nicht mehr, wie jemandes Bücherregal, Küche oder Schlafzimmer aussieht. Ich bin so angeödet von Leuten, die in den Bildschirm glotzen, unvorteilhaft von unten beleuchtet sind und gelangweilt nebenher Facebook checken. Es gibt sich ja keiner mehr Mühe. Niemand schminkt sich mehr, nicht einmal frisieren. Die ausgezahrten Leiberln haben sie alle an, eh klar, versteh ich eh, ich geb mir auch nur im Notfall Mühe.
    Heute zum Beispiel, da war Zoom-Meeting mit wichtigen Leuten, ich hatte sogar Lippenstift drauf. Mein Mann kam herein und stellte mir (huhu, vielleicht hat ihn ja jemand gesehen in seiner abgewetzten lila Jogginghose!) einen Espresso und ein Salamibrot hin. Aber ich konnte eineinhalb geschlagene Stunden nicht abbeißen davon, weil alles so förmlich war. Irgendwann ging es nicht mehr, die Salami hat so gut gerochen, ich täuschte einen Kamera-Ausfall vor und verschlang das Brot mit drei großen Bissen.

    Ursel Nendzig

    22. April 2020

    Susanne Scholl, Wien


    Man fragt sich ja ....

    Auch wenn ich mich sehr bemühe, mein Hirn ausgeschaltet zu lassen, manchmal springt es mich ja doch an. Es stellt sich nämlich so einige Fragen.
    Wieso reden wir dauernd über die Wirtschaft und nicht über Menschen?
    Wieso schauen die Leute böse, wenn man sie anlächelt?
    Wieso sind alle plötzlich so patriotisch?
    Wieso sind wir bereit, Altenpflegerinnen aus Rumänien und Bulgarien einzufliegen, nicht aber, sie anständig zu zahlen?
    Wieso sind wir bereit, Erntearbeiter aus aller Welt einzufliegen, nicht aber, sie anständig zu bezahlen?
    Wieso sind wir besorgt wegen der hohen Arbeitslosigkeit, wollen Erntehelfer oder Pflegeassistenten aber nicht so gut bezahlen, dass wir für diese Arbeit inländische Arbeitslose einstellen könnten?
    Wieso fragt keiner nach der psychischen Situation von Kindern und Eltern unter Hausarrest?
    Mein Hirn stellt also durchaus einige Fragen.
    Aber lieber denken wir nicht nach, leben den Tag so gut wie möglich und wollen nicht wissen, was morgen sein wird.

    Susanne Scholl

    Gunther Neumann, Wien
     

    Nach einem Monat Corona-Blog ist es für mich Zeit für eine kurze Reflexion. Es ist der erste Blog meines Lebens. Ich poste nicht auf Facebook, habe keinen Twitter- oder Instagram-account, war skeptisch, und bin es wohl noch immer. Wir lesen auf dieser Seite die guten Beiträge unserer Kolleginnen, Co-Autorinnen. Doch wer sonst folgt uns wohl, wo Netz & Feuilleton überlastet sind mit Covid-Beiträgen: von Mutmacherinnen bis zur Lust am Weltuntergang, von Spaßcartoons über Metaphern zum Sündenfall einer verunsicherten Wohlstandsgesellschaft bis zu Verschwörungsschwachsinn, der sich verbreitet wie das Virus. Oft erkennen wir alte religiöse oder narrative Muster.

    Ja, oft sind auch ausgezeichnete Gedanken darunter, die mich noch abends, erschöpft, zum Nachdenken anregen. Was wird von den hervorragenden Einsichten bleiben, frage ich mich. Da noch meinen eigenen Senf dazugeben, der mir, müde vom Tag, oft abgeschmackt vorkommt? Ich spüre in mir eine Weigerung, schnellstmöglich metaphysische Erleuchtung zu teilen, momentane, vermeintliche Welterkenntnisse zum Besten zu geben. Wir leben „die Krise“ jetzt, oft emotional. Nachhaltig analysieren, beurteilen, hoffentlich auch literarisch umspinnen, durchdringen und vielleicht erfassen werden wir sie wohl erst viel später. Ich bewundere alle, die jetzt schon Corona-Bücher veröffentlichen, nicht nur als Blog, als „work in progress“, sondern als abgeschlossenes Werk. Fast täglich werden es mehr. Alle Achtung. Ich würde es nicht schaffen.

    Gunther Neumann

    21. April 2020

    Clemens Berger, Wien


    Brief an Amalia

    Heute bist Du acht Monate alt. Die ersten Ostern liegen hinter Dir. Sie waren sehr anders, als wir sie uns ausgemalt hatten: Wir waren kurz bei Deinen Großeltern in Oberwart zu Besuch, saßen mit Abstand im Garten, aßen, tranken Wein, sahen Deine Großeltern in Berlin auf dem kleinen Bildschirm eines Telefons und setzten Dich mit einem roten Ei — und, zugegeben, in einem weißen Strampler mit langen Ohren — für ein Foto auf eine Decke in der Wiese. Geparkt hatten wir erstmals hinter dem Haus. Manche Menschen, hörten wir, riefen in diesen Tagen die Polizei, wenn sie der Meinung waren, eine Zusammenkunft wäre nicht statthaft.
    Du bist unsere große Corona-Krisengewinnerin: Deine Eltern haben noch mehr Zeit für Dich. Weil Deine Frisur jener des Gesundheitsministers ähnelt, nannten wir Dich anfangs Rudi. Wenn Dir etwas nicht ganz plausibel erschien und Du einen entsprechenden Blick aufsetztest, wurde daraus Rudi Ratlos. Tatsächlich bist Du derzeit Rudi Rastlos.
    Wache ich morgens auf, inspizierst Du bereits ein Stofftier oder was immer Du zu fassen bekommen hast. Dein Blick trifft meinen, Dich überkommt eine maßlose Freude, Du ruderst mit Armen und Beinen: Hinaus, hinaus! Du bekommst Milch, wirst in den Filzanzug mit der spitzen Kapuze gepackt, kaum sind wir aus dem Haus, beginnst Du in der Umschnalltrage auf- und abzuhüpfen. Unterwegs bedenkst Du Vorbeikommende mit grellen Freudenlauten. Nach einigen Kilometern nickst Du ein. Bei der Rückkehr erwachst Du im Badezimmer, wenn ich mir die Hände mit Desinfektionsseife wasche. Du legst Deinen Kopf nach hinten und lächelst Dich selbst kopfüber im Spiegel an. Die Tage, in denen Du nach dem Spaziergang schliefst, sind vorüber.
    Auf keinen Fall willst Du abgelegt werden, zumindest nicht, wenn niemand bei Dir ist. Du erforschst jeden Gegenstand aufs Genaueste; woher der Begriff begreifen kommt, stand uns noch nie so deutlich vor Augen. Das Begreifen geht mit einem Bemunden aller Gegenstände einher, derer Du habhaft werden kannst. Sollten wir es jedoch wagen, uns tagsüber mit Dir auf dem Arm Deinem Bettchen auch nur zu nähern, ist mit heftigstem Widerstand zu rechnen. Nachdem Du dem vermaledeiten Ort entkommen bist, sitzt Du auf einmal engelsgleich ruhig neben uns, betreibst Feldforschungen und inspizierst jedes noch so kleine Krümelchen, das Du irgendwo abbeißen konntest.
    Es gibt allerdings eine kleine Chance, Dich tagsüber zumindest einmal vielleicht doch kurz in den Schlaf zu wiegen. Als Du sehr klein warst, beruhigten Dich die vielen Bücher in der Wohnung. Du schienst die unterschiedlichen Farben zu mögen. Wenn Du nun nachmittags in Deinem Bettchen liegen musst und den weinroten Schlafsack unter wildem Protest auszuziehen versuchst — dass Du diesen Reißverschluss nur wenige Zentimeter öffnen kannst, macht Dich rasend! —, dann schlägt die Stunde der Mausezähne. Ich hatte Dir einmal die Geschichte von Alois und Roswitha Mausezahn erzählt; wie sie ging, weiß ich nicht mehr. Seit damals nennen wir Dich gelegentlich Mausezahn, auch wenn Deine ersten Zähne auf sich warten lassen. Nun beginnt das Mantra: Dein Vater liest von den Buchrücken in den Regalen die Namen aller Autorinnen und Autoren vor, von Adalbert bis Veza Mausezahn. Zwischen Vornamen und Nachnamen macht er eine kleine Pause. Ödön von — Mausezahn; Honoré de — Mausezahn; Elfriede — Mausezahn; Giorgio — Mausezahn. Besonders ergiebig ist die Bibel: Nach Matthäus und Lukas und Markus und Johannes Mausezahn kommen Paulus und Timotheus und viele andere Mausezähne. Manchmal schläft Amalia Mausezahn dabei ein.

    Clemens Berger

     

    Daria Wilke, Wien


    Man könnte glauben, die Kinder dürften mit Puppen und Masken spielen, im Puppentheater, in dem meine Eltern arbeiteten. Der riesige Raum, voll von Marionetten, Stab- und Handpuppen, großen und kleinen Masken, zog uns, die Kinder der Schauspieler, mit ungeheurer Kraft an. Wir träumten davon, in diesem Depot leben zu dürfen und ewig mit den Puppen zu spielen. Vor den Masken fürchteten wir uns und wollten trotzdem unbedingt hineinschlüpfen – in eine andere, fremde Haut. In der Maske roch es nach Staub, Schminke und Kleister, es war unbequem und eigenartig da drinnen, jeder Atemzug fiel schwerer und man konnte auf einmal den eigenen Atem spüren – aber das Gefühl, im Handumdrehen ein anderes Gesicht zu haben, eine andere Person wie ein Kleid anzuprobieren, war überwältigend.
    Später, wenn das Wort „Maske“ fiel, dachte ich an das Puppendepot aus meiner Kindheit – oder an Masken der Commedia dell'arte, an den Karneval in Venedig und an die weiße Bauta Casanovas. Jetzt ist alles vom Coronavirus weggewischt. Jetzt ist „Maske“ die Maske, eine für Atemschutz – und zum Schutz der anderen. Etwas, was eher an Krieg und Krankheiten erinnert als an die Kunst, an Theater oder Karnevalkultur. Vorerst. Denn falls die Maske länger bleibt, kann ihr Wert mutieren – wie das Virus selbst. Unsere Vorfahren haben für uns vorgesorgt und uns ein Sammelsurium an Interpretationen überlassen: die Maske als Allegorie der Täuschung oder Symbol der Unterwerfung, eine Maske, um sich zu tarnen, oder um eigene Anonymität zu bewahren und sich Freiheit zu nehmen, alles zu tun, ohne ertappt zu werden. Die Maske als Inbegriff der Komödie oder als Symbol der tragischen Muse Melpomene, eine Maske, die den Tod verspottet, und eine, die an den Tod erinnert – man kann nach Lust und Laune aussuchen, welche Deutung einem selbst zusagt. So viel Freiheit hat man ja immer.
    Und noch zur Freiheit. In unserem Vorzimmer hängen Masken. Zum Ausgehen – weiße und schwarze. Zur Auswahl. Zum Rollenwechsel. Man kann schließlich schon jetzt wählen, was man spielt. Wenn man Mist runterträgt oder einkaufen geht.

    Daria Wilke

    20. April 2020

    Robert Streibel, Wien


    Ich habe vom Bundeskanzler geträumt

    Heute war die Hölle los. Nein, ich habe nicht vom Vatikan geträumt, aber vom Bundeskanzler. In einer Radiorede, die er komischerweise im Stil der Verkaufsshows gehalten hat, bei denen man Fitnessgeräte oder Uhren oder auch Sexartikel angeboten bekommt, trug er einen weißen Bademantel mit blauem Blumenmuster, das Muster war leicht psychodelisch, der Mantel nicht ganz geschlossen, aber im Traum sieht man ja nicht immer alle Details. Der Inhalt der Rede war besonders, bemerkenswert. Der Bundeskanzler hat ein Gerät vorgeführt, das aus unserem Küchenfundus stammt, eine Kartoffelpresse und mit dieser Presse werde jetzt jedes Essen gemacht, man gebe alles hinein, presse es und könne dann alles sofort essen oder einfrieren. So müssen das jetzt alle Österreicher machen. Es gebe dafür eine Verordnung und deren Einhaltung könne auch kontrolliert werden. Mit den Handydaten.
    Ich sollte wohl nicht nur ein Tagebuch, sondern auch ein Traumbuch schreiben. Seine Träume kann sich niemand aussuchen. Dass ich jetzt vom Bundeskanzler auch träumen muss, irritiert mich, stört mich wirklich, vielleicht sollte ich doch den Whisky am Abend nicht absetzen. Entzugserscheinungen machen sich böse bemerkbar. Zum Wohnen gehört auch das Essen. Noch nie wurde so delikat gekocht bei uns zu Hause wie in diesen Tagen. Und wenn man in den Straßen geht, den Mindestabstand einhaltend und die Sprachfetzen von entgegenkommenden Paaren oder überholenden Paaren notierend, so stellt man fest, dass sich das Gespräch sehr oft um den Einkauf oder den Speiseplan für die nächsten Tage dreht.
    Und von wegen Kontrolle: Haben Sie auch den Bericht in der ZIB gesehen, wo analysiert wurde, wie sich der Verkehr reduziert habe, die Pendlerströme, alles an Hand der Handydaten? Dieser Bericht blieb vollkommen unkommentiert, es war unglaublich, wieso weiß irgendwer wohin mein Handy unterwegs ist? Niemand hat dies aufgegriffen, das ist offenbar irgendjemandem „passiert“, und kein Aufschrei. Oder habe ich das eventuell auch nur geträumt? Gut. Mehr Crunches am Abend, ich muss die Frequenz erhöhen und dann noch einen Whisky. Und der Bundeskanzler behelligt mich hoffentlich dann nicht mehr.

    Robert Streibel
     

    Gunther Neumann, Wien


    Das Sein bestimmt das Bewusstsein: ein politisch aufgeladener und abgedroschener Satz. Doch wenn ich früher in einem Text über irgendein Thema einen Bezug auf Kinder las, empfand ich das manchmal als pathetisch. Heute bestimmen unsere Kinder mein eigenes Leben, manchmal etwas mehr, als mir lieb ist, gerade in diesen Wochen, in denen Masken nicht heitere Faschingsstimmung auslösen. „Wann haben wir unseren Kindern zuletzt gedankt?“, fragt mich meine Frau, nachdem sie Clemens Bergers letzten Blog-Beitrag gelesen hat. Hmm.
    Begleitet mich ein Buch durch die Covid-Krise? Weder die jetzt vielzitierte „Pest“ von Camus, noch eine vermeintlich hellseherische Dystopie - schon allein aus Zeitgründen. Vielmehr könnte ich, seit unsere Jungs permanent zu Hause sind, aus drei Dutzend Kinderbüchern wählen. Saskia Hulas schmales, buntes Dschungelbuch «Bei drei auf den Bäumen» etwa ist eine wunderbare Anleitung nicht nur für verunsicherte Kinder, dass kein Schrecken Macht über uns haben muss.

    Gunther Neumann

    19. April 2020

    Judith Brandner, Königstetten


    Der heimische „Epidemiebote“ hält sich an die Osterruhe. Keine neuen Verordnungen. „Der Epidemiebote hat sich die Aufgabe gestellt, unsere Mitbürger mit gewissenhafter Unabhängigkeit über die Fortschritte oder das Nachlassen der Krankheit zu unterrichten; ihnen die berufensten Ansichten über die Zukunft mitzuteilen; allen Bekannten oder Unbekannten, die die Geißel bekämpfen wollen, die Unterstützung seiner Spalten zu gewähren; den inneren Halt der Bevölkerung zu kräftigen, die Anweisungen der Behörden bekanntzugeben; mit einem Wort, alle diejenigen, die guten Willens sind, zu sammeln, um wirksam gegen das Unglück, das uns trifft, zu kämpfen.“ (Albert Camus).
    Japans „Epidemiebote“ sitzt auf einem eleganten Sofa, ein Tässchen Tee in der Hand, einen süßen schwarzen Hund auf dem Schoß, und fordert die Bevölkerung auf, von nun an zu Hause zu bleiben. Das Setting kam gar nicht gut. „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?!“, richtete einer dem japanischen Ministerpräsidenten via Twitter aus, bar jeder höflichen Zurückhaltung, „Wir versuchen zu überleben, und Sie zeigen uns dieses Video von Ihrem Luxusleben!“ Schon hatte ich geglaubt, dass die japanische Höflichkeit und Etikette mit ihrem kulturell verwurzelten Abstandhalten und Maskentragen das Inselreich von Corona weitgehend verschont habe. War doch dort das kollektive und feucht-fröhliche hanami, das Bestaunen der Kirschblüte, noch zu einem Zeitpunkt möglich, als wir hier das Haus längst nur mehr in den erlaubten seltenen Fällen verließen. Einzeln. Maximal zu zweit. Dann hatte Abe Ende März an die Menschen in Tokyo, Osaka und anderen Großstädten appelliert, doch dieses Wochenende mal freiwillig zu Hause zu bleiben. „Wir machen dieses Wochenende social distancing“, ulkte eine Freundin. Eine Woche zuvor war die Austragung der Olympischen Sommerspiele in Tokyo wegen der weltweiten COVID-19-Pandemie um ein Jahr verschoben worden. Und nun steigen auch in Japan die Fälle, wird das öffentliche Leben nach und nach heruntergefahren. Ist über vorerst sieben Präfekturen der Ausnahmezustand verhängt worden. Die Universität meiner ehemaligen Studentin Yui hat bis September Online-Unterricht verordnet. Yui schickt mir eine Liste mit Vorschriften, an die sie sich halten muss. Alle Studierenden sind angehalten, nicht auszugehen und keine Reisen zu unternehmen, außer in unbedingt notwendigen und dringenden Fällen. Gehört unser Hiroshima-Projekt dazu? Aus der Sicht der japanischen Behörden wohl eher nicht. Mit Yui als einer meiner wichtigsten Protagonistinnen wollte ich einen Film zum 75. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima drehen. Es sollte eine Spurensuche mit der Enkelgeneration werden. Yuis Großvater war ein hibakusha, ein Überlebender der Atombombe. Sie hat seine Geschichte aufgearbeitet und niedergeschrieben, und arbeitet nun an ihrer Dissertation über die Traumatisierung von Atombombenüberlebenden. Es wird ein Pionierwerk werden, denn darüber hat in Japan bislang noch niemand geforscht.
    Der Chef der japanischen SoftBank Gruppe, Masayoshi Son, hat unterdessen einen Deal mit dem chinesischen Elektroautohersteller BYD geschlossen, der auf Maskenproduktion umgestellt hat. Der Kommunikations- und Medienkonzern SoftBank kauft von BYD 300 Millionen Gesichtsmasken pro Monat. SoftBank gibt sie an die Japaner*innen weiter, ohne Profit dabei zu machen, wie Son betont. Und die Regierung Abe lässt zwei waschbare Masken pro Person über das Verteilsystem der japanischen Post an die Haushalte liefern.
    Japan habe die tatsächlichen Zahlen der Corona-Erkrankungen verschleiert und Maßnahmen verzögert, um die Austragung der Olympischen Spiele nicht zu gefährden, meinen böse Zungen. Erst seit klar ist, dass es heuer keine Spiele gibt, sammelt auch in Japan der Epidemiebote „alle diejenigen, die guten Willens sind, um wirksam gegen das Unglück, das uns trifft, zu kämpfen.“

    Judith Brandner

    18. April 2020

    Robert Streibel, Wien


    Wir leben im Jetzt, und scheinbar hat nur die Kurve eine Geschichte. Diese unbegrenzte Gegenwart hat für manche einen Vorteil. Unsere Gegenwart hat kein Davor. So positiv hat sich die Kirche schon lange nicht mehr präsentiert. Trost, Kraft und was sonst noch alles spendend. Und alles ist vergessen in dieser Gegenwart. Zum Glück ist mein Bücherstapel neben dem Bett umgefallen, es war ein Lottogewinn für meine Erkenntnis: ein Danke an die Schwerkraft.
    James Joyce “Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“ kam ganz oben zu liegen. Ein Zufall? Wenn die entsprechende Seite aufgeschlagen gewesen wäre, dann wäre das ein Wink (von wem auch immer?) gewesen. So muss ich zu lesen beginnen. Dublin und Stephen Dedalus, die Schule und die Geistlichen. Wer diese Schilderung der Hölle liest, mit der der Prediger die Jugendlichen gepeinigt hatte, der fürchtet sich nicht mehr vor einem Virus. „Das Feuer der Hölle in ewiger Finsternis“, der Gestank, die Schmerzen, das Schreien. Für Stephen als pubertierendem „Sünder“ ist das eine reale Perspektive.
    Auch das und noch viel mehr konnte die katholische Kirche und sie kann es noch heute. Die Gegenwart macht uns glauben, dass der religiöse Tag nur aus dem tröstlichen Nachmittagskaffee besteht, doch da war der Morgenruf der Bekehrung und die verschwitzte Mittagsruhe der Jugendlichen jeglichen Alters und dann die Ängste der Nacht.
    Die Gegenwart des Virus bringt aber auch anderes zum Vorschein: Die Orthodoxen, seien sie nun Evangelikale, Moslems, Hindus oder Juden, sind die größte Gefahr. Wer glaubt, nur beten hilft, oder auch, den Urin von Kühen zu trinken, und so die Wissenschaft leugnet, ist in jeder Hinsicht eine Bedrohung für die Allgemeinheit. Orthodoxe, vereinigt Euch. Ein Land, in dem alle Orthodoxen glücklich werden sollen, ein Land müssen wir finden, groß genug, schön genug, wo alle Platz finden. Eine Quarantäne erübrigt sich dann.
    Der richtige Horror macht kurz vor Mitternacht auch in unserer Wohnung Station. Nach einer Opernaufführung aus Salzburg (1. Reihe fußfrei Fauteuil) sind wir plötzlich im Vatikan und Thielemann dirigiert ein Konzert für den Papst, den Ratzinger. Alle Kardinäle im Publikum mit Ornat, alte Männer, und auf der Bühne ein Bubenchor. Diese Pornografie können weder Mozart noch Mendelssohn entkräften.
    Der letzte Schluck des japanischen Whiskys hilft etwas. Ein Geschenk, so kostbar, dass jeder Schluck in einem Buch verzeichnet wurde. Die letzte Eintragung bringt mich wieder auf andere Gedanken und ich schlafe unbehelligt. 

    Robert Streibel

    17. April 2020

    Kaśka Bryla, Leipzig


    „Hast du dein Ei bereit?“, fragt meine Mutter am Telefon. Ich schaue auf meinen Teller und sehe, dass ich das Ei im Laufe des Gespräches schon gegessen habe. In Polen teilt man traditioneller Weise am Ostersonntag zum Frühstück ein (geweihtes) Ei miteinander. „Bereit“, antworte ich und stecke mir eine Olive in den Mund.
    „Dreihundert Meter“, erzählt meine Schwester ebenfalls aus Warschau (anderer Stadtteil als meine Mutter) am Telefon, „gerade weit genug, um zum nächsten Supermarkt und zur nächsten Apotheke zu kommen.“ Das Kleinkind meines Mitbewohners läuft an mir vorbei. „Ei!, Ei!“, ruft es und hält das hartgekochte bunte Ei hoch. Ich winke.
    Langsam sei es mühsam keine Freunde zu treffen. Selbst mit ihrem Mann müsse sie auf der Straße zwei Meter Abstand halten, erzählt meine Schwester weiter. Das finde sie doch übertrieben.
    Während des Gesprächs scrolle ich die Twitter-Meldungen von sea-eye durch. Die 150 Personen sind noch immer an Bord der Alan Kurdi. Das ist jetzt schon eine Woche her.
    „Anstrengend“, pflichte ich meiner Schwester bei. „Aber du wohnst ja mit so vielen Menschen zusammen“, sagt sie. Etwas, das mir in normalen Zeiten selten als Vorteil ausgelegt wird.
    In Leipzig bekomme ich die Ausgangsbeschränkung tatsächlich kaum zu spüren. Einerseits liegt das sicher an dem Stadtteil, in dem ich lebe. Connewitz. Der direkt angrenzende Wald ist knallvoll wie im Hochsommer. Zwei Meter Abstand hält niemand ein. Vereinzelt läuft jemand mit einem Mundschutz herum. Das ist aber wirklich die Ausnahme. Auch beim Bäcker sieht mich die alte Frau, die einen halben Meter hinter mir steht und mir in den Rücken hustet, verwundert an, als ich mich umdrehe und sie bemerkt, dass ich den Schal über die Nase gezogen habe. Andererseits würde ich mit meinen braunen Stirnfransen und der weißen Haut auch außerhalb des erlaubten 15 Kilometer Radius wahrscheinlich gar nicht erst kontrolliert werden.
    „Hier erwarten wir den Peak Ende April“, sagt meine Schwester. Ich scrolle durch meine Mails. Eine Kollegin aus Wien schreibt mir, dass sie sich als jemand aus der Risikogruppe manchmal furchtbar schlecht fühle, weil wegen ihr „die Jungen“ ihr Leben so sehr einschränken müssen.
    Dass es so weit kommt, dass sich die sogenannte „Risikogruppe“ schlecht fühlt, geht mir total auf die Nerven. Genauso wie ich die Augen verdrehe, wenn meine Mutter seit ihrem 65. Lebensjahr darauf besteht, keine lebensverlängernden Maßnahmen durchführen lassen zu wollen. „Und ich soll das dann entscheiden?“, frage ich immer. Natürlich, sagt sie. Weil sie füllt selbstverständlich keine Patient*innenverfügung aus. Allerdings habe ich auch noch nie versucht, ihr dabei zu helfen. So selbstlos bin ich schlichtweg nicht. Ich möchte ja, dass sie ewig lebt. Und schließlich gehört sie zu jenen, die am längsten in dieses Gesundheitssystem einbezahlt haben, also warum soll bei ihr im hohen Alter nicht um jedes weitere Jahr, auch wenn es nur eines ist, gekämpft werden.
    Außerdem wird mir bei der dystopischen Vorstellung von einer Gesellschaft mit lauter jungen, gesunden Menschen einfach übel. Wer will denn das?
    „Nächstes Jahr feiern wir wieder zusammen“, sage ich zu meiner Schwester und zu meiner Mutter „Wir hören uns später.“ Inzwischen telefonieren wir zwei Mal am Tag. So viele Gespräche, Telefonate Skype-, Zoom- und Jitsi- Dates wie seit dieser Krise hatte ich gefühlt das gesamte Jahr 2019 nicht. Das Wetter macht es zu einem der schönsten Ostersonntage, an die ich mich erinnere. Über 20 Grad. Überall Knospen und kleine grüne Blätter. Ich schmiere mir sogar Sonnencreme ins Gesicht.

    Kaśka Bryla
     

    Thomas Weber, Strasshof


    An die Nachgeborenen


    Wir essen Zwiebelsalat, weil wir uns nicht um den schlechten Atem anderen gegenüber scheren müssen, wenn wir zu Hause bleiben. Knoblauch, Zwiebel, Linsengerichte. Erste Freunde haben sich Glatzen rasiert. Im Schutz der eigenen vier Wände wird – ja, den Gedanken hatte ich auch – mit dem schütter gewordenen Haupthaar experimentiert. Langeweile ist aufgekommen, weil fast alle das Gleiche von sich gaben. Weil man sich in engen Wohnungen gegenseitig auf die Zehen steigt. Nie zuvor habe ich mich privilegierter gefühlt: ein kleines Häuschen, ein paar Quadratmeter Gemüse und Wiese, der Wald in Reichweite, eine Bibliothek und zahlreiche Bücherstapel. Manchmal vergesse ich, welchen Wochentag wir haben. Mittlerweile steht das Fernglas in Reichweite, gleich neben Leander Khils Bestimmungsbuch über die „Vögel Österreichs“. Bin ich schon einer dieser schrulligen Birdwatcher, wenn ich jetzt endlich den Unterschied zwischen einem gemeinen Haussperling und einem Feldsperling erkenne? Im nächsten Level ginge es dann darum, den Gesang der beiden erkennen und unterscheiden zu können. Mal sehen, wie lange wir zu Hause bleiben müssen.
    Was mich beim Unkrautzupfen und Gießen beschäftigt hat, ist auch diese neue seltsame Zwischenkategorie. Plötzlich wird die Welt nicht mehr ausschließlich in Gesunde und Kranke unterteilt. Es gibt auch die Vorerkrankten. Bislang Gesundgeglaubte sind plötzlich Risikokandidaten. Und natürlich die Dunkelziffer. Diejenigen, die das Virus bereits bewirtet und womöglich unerkannt weitergereicht haben. Darüber hinaus habe ich die Lust daran verloren, mich am kollektiven Nichtwissen zu beteiligen. Ich vertraue darauf, dass die Wissenschaft ihrem Namen gerecht wird, wir irgendwann mehr wissen werden, und fühle mich vom wachsenden Besserwissertum vieler meiner Mitmenschen genervt.
    Den Takt gibt das Radio vor. Wenn sich die Nachrichten zu oft wiederholt haben, wechsle ich von Ö1 zu FM4. Oder umgekehrt. Falls ich es nicht überhört habe, dann haben sie aufgehört, stündlich die Zahl der Neuinfektionen, Gestorbenen, Genesenen zu verlesen. Ich merke, wie unaufmerksam ich immer zur vollen Stunde werde. Die Nachrichten sind schrecklich monoton geworden. Auch für diejenigen, die sie ansagen müssen. Die Moderatorin im Bildungsradio nahm es mit Humor: „Auch nicht erfreulich, aber wenigstens ein anderes Thema: die Borkenkäferplage.“ Die Tiere sind heuer nicht erst irgendwann im Frühjahr, sondern bereits im Jänner geflogen. Schlecht für die letzten Fichten, denke ich.
    Meinen Garten plagt einstweilen die Trockenheit. Ohne Wasser aus dem Brunnen würde gar nichts wachsen, und die drei Tropfen, die es gestern geregnet hat, sind nicht von Belang. Wenn es so weitergeht, drohen die Igel heuer schon im Frühjahr zu verdursten.
    Vor ein paar Nächten hatte ich noch Angst, es würde frieren, und stellte Grabkerzen ins Frühbeet, damit die frostempfindlichen Pflänzchen draußen überleben. Die Nachbarn könnten glauben, ich würde an der Entwicklung eines Teufelskults arbeiten. Gedämpftes Flackern durch einen Sarkophag aus Plexiglas, in dem Häuptelsalat und Kohlrüben Wurzeln schlagen.
    Vielleicht sind sie deshalb alle so freundlich. Aufs Erste mag es paradox klingen, aber die verordnete Distanzierung und Isolation hat mich meinen Nachbarn nähergebracht. Man unterhält sich über den Zaun hinweg, über die kaum mehr befahrene Straße, von Komposthaufen zu Komposthaufen. Bin ich eher Homer Simpson oder vielleicht doch Ned Flanders? Die Spießigkeit von Suburbia beruhigt jedenfalls, und Piggie, die vier Monate alte Dackeldame des Nachbarn, ist wirklich entzückend.
    Ich entwickle unerwartete Routinen, schließe neue Bekanntschaften. Nicht nur vor der Tür, auch draußen im Wald, in den es mich jetzt fast täglich zieht. Wenn ich joggend näherkomme, höre ich immer an derselben Stelle einen Eichelhäher schreien. Es ist eine künstliche Aufgeregtheit, mit der er die anderen Tiere an der etwas abseits des Trampelpfads gelegenen Wildfütterung warnt. Manchmal sehe ich dort noch aufgewirbelten Staub und erkenne, dass etwas vor mir ins Dickicht geflohen ist.
    Mit den Kindern, die vierzehn Tage bei mir waren, habe ich am Waldweg zwei Dutzend Ölkäfer gezählt. Dass die Viecher giftig sind, wusste ich. Dass sie dermaßen giftig sind, war mir aber nicht bewusst. So ein Superlativ fasziniert, selbst wenn „das giftigste Insekt der Gegend“ weniger eindrucksvoll klingt als der historische Verweis. Angeblich wurden die Giftmorde der berüchtigten Renaissance-Familie Borgia mit zermahlenen Ölkäfern durchgeführt. Den einen oder anderen von ihnen hatte ich wohl schon im Profil meiner Laufschuhe kleben. Oder die Kinder haben ihn mit ihren Mountainbikes überfahren.
    Eine Milliarde Tiere soll in den Buschfeuern in Australien verbrannt sein. Ich frage mich, wie solche Hochrechnungen zustande kommen. Die Feuer wurden jedenfalls gelöscht, wenn auch nicht von Menschenhand, sondern von den – laut Radio – schwersten Regenfällen, seit darüber Aufzeichnungen geführt werden.
    In Wien und in Graz und wohl auch andernorts haben die Stadtmuseen aufgerufen, zu sammeln. Kein Crowdfunding, nein, es geht um Objekte und private Dokumente in Schrift, Bild, Audio und Video. Für die Nachgeborenen. „Dieser Apfelbaum wurde am 28.3.2020 inmitten der großen Corona-Krise gepflanzt“, heißt es auf dem Foto in einer Mail-Aussendung, „er gibt uns Hoffnung auf süße Früchte.“ An der Uni Graz soll ein Forschungsprojekt unseren Umgang mit der Krise wissenschaftlich analysieren. Was mich daran erinnert, dass ich einmal über Pestsäulen recherchieren wollte. Und an meinen Vorsatz, spätestens im Herbst die Stämme der Obstbäume mit Kalk einzustreichen. Weiß gestrichen, bleiben die Bäume länger kühl, blühen später und sind so besser vor spätem Frost geschützt.
    Was außer diesem Text könnte ich selbst als Museumsobjekt beisteuern? Was wäre mustergültig für diese außergewöhnliche, bislang aber nicht wirklich entbehrungsreiche Zeit? Ein auf Nadeln gespießter Ölkäfer wäre seltsam exzentrisch. Eine niedergebranntes Grablicht pathetisch. Eine Gießkanne beliebig. Eines der Bücher, die ich zuletzt gelesen habe, zu willkürlich. Am aussagekräftigsten wäre vermutlich jenes Buch, das wir zu Hause dieser Tage immer wieder zur Hand nehmen, manchmal sogar mehrmals täglich: der Frühlings-Band aus Katharina Seisers „Jahreszeiten-Kochschule“. Es ist das erste Mal seit Schulbuchzeiten, dass ich mir vorstellen kann, dass eines meiner Bücher irgendwann richtig abgegriffen ist, gezeichnet vom Leben, so, wie man es aus Museen kennt.

    Thomas Weber

    16. April 2020

    Robert Streibel, Wien


    Das Radio im Ohr

    In Zeiten der Krise wird Nachrichten hören zum Ritual. Wobei ich gestehen muss, ich habe bei meinem Ritual den Höhepunkt schon überwunden, bei mir ist die Kurve schon abgeflacht, ich bekomme keine Krise, wenn ich die ZIB1 und die ZIB2 nicht sehe und das Abendjournal verpasse.
    Um Nachrichten zu hören, braucht es heute kein Radio mehr, und alle Nachrichten sind immer abrufbar.
    Ich kannte nur einen Menschen, der wie versessen war auf Nachrichten, immer, wenn es eine Krise gegeben hat, nicht bei uns, sondern in Israel, also fast immer. Bei welchem Nahost-Krieg es gewesen ist, weiß ich nicht mehr, aber Rudi Gelbard, Überlebender aus Theresienstadt und zeitgeschichtlicher Dokumentarist, hatte bei unseren Treffen immer ein kleines Transistorradio bei sich. Rudi war unerbittlich und forderte seine Zeit für Gespräche ein, aber auch für die Nachrichten, gleichgültig, wo er sich gerade befand. Irgendwo in der Nähe des Café Frauenhuber ist es gewesen, er hat seine Aktentasche auf ein Sims gestellt und gemeint, es dauert nicht lange. Hat das Radio ausgepackt und zugehört. Wir sind lange gestanden, er hat gehört und ich habe nur Sprachfetzen mitbekommen.

    Robert Streibel
     

    Jad Turjman, Mattsee


    Büchervernichtung

    In diesen Zeiten wird über die Gefahr eines Virus als das ultimative Böse geredet. Ich möchte jedoch über die Gefahr reden, die ein Mensch hervorrufen kann, und welche unfassbaren Taten er anrichten kann. Ich möchte über unsere Schattenseiten sprechen. Eine davon ist Büchervernichtung.
    Am 10. Februar 1258 haben die Mongolen, geführt von Hülegü, Bagdad in Schutt und Asche gelegt. Dabei zerstörten sie das Haus der Weisheit: die größte Bibliothek und das Haus des Wissens auf Erden damals. Sie warfen unzählige wertvolle Bücher und historische Dokumente über Themen von Medizin bis Astronomie in den Fluss Tigris. Überlebende sagten, dass das Wasser des Tigris von der Tinte schwarz war.
    Am 10. Mai 1933 inszenierte die Deutsche Studentenschaft eine Aktion, um Bücher in Berlin zu verbrennen.
    Bücher von:
    Ernest Hemingway
    James Joyce
    Karl Marx
    Franz Kafka
    Victor Hugo
    Heinrich Mann
    Und vielen anderen, weil diese Bücher nicht germanisch waren.
    Der Propagandaminister in Hitlers Regierung sagte den StudentInnen: „Darüber sind wir geistigen Menschen uns klar: Machtpolitische Revolutionen müssen geistig vorbereitet werden. An ihrem Anfang steht die Idee, und erst wenn die Idee sich mit der Macht vermählt, dann wird daraus das historische Wunder der Umwälzung emporsteigen.“
    In seinem dystopischen Roman „451 Fahrenheit“ schrieb Ray Bradbury über eine fantasierte zukünftige Gesellschaft in den USA, in der Bücher verboten sind. Der Grund dafür ist der simple, dass Bücher in Wiederspruch zum allgemeinen Wunsch des „Glücklichseins“ stehen, und sie für Spaltung und kritische Stimmung sorgen. In dieser Gesellschaft ist die Aufgabe der Feuerwehr Bücher zu verbrennen.
    Der Hauptprotagonist Guy Montag erlebt jedenfalls beim Erledigen seiner Aufgabe etwas Seltsames. Er sieht eine Frau, die sich mit ihren Büchern ins Feuer wirft. Er versteht ihr Verhalten nicht und versucht herauszufinden, warum sie das macht.
    Er hebt heimlich eins dieser Bücher auf und liest es später.
    Am Ende dieses Romans schließt sich Montag einer Gruppe an, die sich zur Aufgabe macht, sich dieses Erbe an Wissen im Kopf anzueignen, weil das Gedächtnis fern der Gräueltaten bleibt.
    Weil Massaker an Büchern zu Massakern an Menschen führen.
    Und das führt mich zu der Erkenntnis, die ich mit den Worten von Heinrich Heine konkretisieren möchte: „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen."
    Und leider ist das nicht nur im Roman der Fall. Das ist eine Realität, die sich immer wieder wiederholt. Nicht nur in der weit entfernten Vergangenheit oder in Nazideutschland. Das ist in China dasselbe. Oder in der Geschichte des Orientalischen Instituts in Sarajevo.
    Sarajevo war eine Ikone der Toleranz. Eine Stadt, in der Muslime, Christen und Juden in Harmonie lebten. Am 18. Mai 1992 wurde das Orientalische Institut von serbischen Streitkräften in der belagerten Stadt Sarajevo bombardiert. Es wurden 5263 gebundene Manuskripte in arabischer, persischer, türkischer, hebräischer und lokaler Arecica (bosnisch in arabischer Schrift) Sprache sowie Zehntausende von Dokumenten aus der osmanischen Zeit zerstört.
    Der britische Journalist Robert Fisk sagte: „Sie bringen die Verstorbenen um und die Lebenden.“
    Das Traurigste an diesem Ereignis ist, dass sogar AkademikerInnen es unterstützt haben, wie der Psychiater Jovan Raskovic, der Gründer der Serbischen Demokratischen Partei.  Er behauptete, dass Muslime und Kroaten geistig gestört seien. Und Professor Nikola Koljevic, der tausende muslimische StudentInnen 28 Jahre lang an der Universität von Sarajevo unterrichtet hat. Und Dr. Biljana Plavsic, die ethnische Säuberungen anordnete. Sie bezeichnete Muslime „als genetischen Irrtum im serbischen Körper“.
    Mein Opa erzählte mir mal, dass er selbst, als die Al Baath-Partei Hausdurchsuchungen machte, Bücher verbrennen musste, weil sie andere Meinungen vertraten als die des Regimes. Und das tut mir am allermeisten weh. Wenn Menschen gezwungen werden, selbst ihre Bücher zu vernichten.
    Bücher tragen das ganze Wissen und die Geschichte der Menschheit, aber ihre Körper sind fragil und können gegen die Gewalt der Menschen nicht überleben.
    Ich habe diesen Betrag geschrieben, weil ich Bücher liebe.
    Weil die Zerstörung einer Kultur jeden Menschen auf der Welt etwas angeht.
    Bücher sind offene Fenster auf die Welt.
    Ein Buch ist ein Freund, Protokollführer und Zauberer.

    Jad Turjman

    15. April 2020

    Nuno Maulide, Wien
    aufgezeichnet von Tanja Traxler


    Uni-Lehre ohne Tafel und Kreide?

    Als Professor für Organische Synthese an der Universität Wien, ist neben der Forschung die Lehre ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Im Gegensatz zu manchen meiner Kollegen liebe ich es, Vorlesungen zu halten! Allerdings muss ich zugeben, dass ich dabei immer etwas altmodisch war – doch durch die Corona-Krise hat sich das schlagartig verändert. Schon jetzt kann ich sagen: Nach dieser Krise werde ich ein anderer Lehrender sein, als ich zuvor gewesen bin.
    Tafel und Kreide waren immer die einzigen Hilfsmittel, die ich in meiner Vorlesung verwendet habe. Ich war bewusst immer dagegen, Skripten meiner Vorlesungen anzufertigen, ich wollte, dass alle Studierenden selbst mitschreiben und mitdenken. Als Mitte März klar wurde, dass wir nun keine Vorlesungen mehr im Hörsaal halten dürfen, habe ich mir eine Woche lang überlegt, wie ich den Umstieg auf Online-Lehre am besten schaffen kann. Bekannte auf Twitter waren mir dabei ebenso eine Hilfe wie einer meiner Doktoranden und EDV-Betreuer an der Universität Wien.
    Inzwischen habe ich mich an die Online-Lehre gewöhnt und ich muss sagen: So ruhige Studierende hatte ich noch nie. Kein Mucks ist zu hören, wenn ich am Touchscreen mit Smartpen Molekülstrukturen zeichne. Und zu meiner Überraschung habe ich festgestellt: Mit Smartpen schreibt es sich besser als mit Kreide. Wenn jemand eine Frage hat, sehe ich das im Chatverlauf, doch kein Klopfen in den Reihen stört meinen Vortrag. Trotzdem muss ich sagen: Der direkte Kontakt zu den Studierenden fehlt mir massiv. Und wenn einmal ein Server ausfällt, ist die Online-Lehre natürlich die reinste Katastrophe.
    Mir war immer schon bewusst, dass es etwas altmodisch ist, dass ich 2020 meine Vorlesungen halte, als wären wir noch in den 1970er Jahren. Es ist schon eine Ironie des Schicksals, dass es die Corona-Krise gebraucht hat, damit ich mich von meiner traditionellen Vortragsweise verabschiede. Und während mein Blick bei meiner Vorlesung statt durch den Hörsaal über die Bildschirme im Home-Office kreist, ertappe ich mich dabei, mir mit einem Augenzwinkern die Frage zu stellen: Ist diese ganze Corona-Krise letztlich von Studierenden ausgeheckt worden, die mich endlich zu modernen Lehrmethoden zwingen wollten?

    Nuno Maulide
     

    Tina Pruschmann, Leipzig


    Das verborgene Bild

    Gäbe es die Pandemie nicht, säße ich dieser Tage in einem Fernbus nach Kiew. Der Weg führt die Via Regia entlang über Breslau und Lwiw. Die Fahrt dauert 24 oder 28 Stunden, je nachdem, wie sehr sich der Verkehr an der polnisch-ukrainischen Grenze staut. Ich wollte gern im Frühjahr fahren. Es heißt, Kiew – die Stadt der Kriegsdenkmäler und Klöster – sei am schönsten, wenn die Kastanien blühen. Eine Millione Bäume soll der Bestand zählen. Allerdings sind nicht allein die Kastanien der Grund der Reise. Ich recherchiere für den nächsten Roman und mein Interesse gilt Tschernobyl; dem havarierten Kraftwerk und dem Provinzstädtchen, das der Atomstation seinen Namen gegeben hat. Was es in Tschernobyl zu sehen gibt, ist ein andauernder Ausnahmezustand. Abgeschirmt von einem Sarkophag lagern in Reaktor Nummer vier noch immer zweihundert Tonnen geschmolzenes Uran. Es besteht zu 99 Prozent aus Uran-238 mit einer Halbwertzeit von 4,5 Milliarden Jahren. Wenn also in vier oder fünf Milliarden Jahren die Welt aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich untergeht und eine aufgeblähte Sonne die letzten Mikroorganismen von der Erde brennt, wird gerade einmal die Hälfte des Urans aus Reaktor vier zerfallen sein. Das ist die Zeitrechnung von Tschernobyl. Als ich vor zwei Jahren zum ersten Mal in Kiew war, habe ich den Tschernobyl-Trip nicht geschafft, ich fühlte mich zu schlecht vorbereitet, oder ich habe mich nicht getraut. Radioaktivität, da ist sie einem Virus ähnlich, sieht, hört, riecht man nicht. Während die Strahlungswerte steigen oder ein Virus sich verbreitet, wärmt die Sonne trotzdem unsere Haut, die Frühlingsblüten duften, an den knorrigen Ästen der Bäume bricht zartes Grün hervor. Diese Nichtwahrnehmbarkeit einer Gefahr ruft die unterschiedlichsten Reaktionen hervor. Bei den einen breitet sich Panik aus, bei den anderen eine leichtsinnige Unerschrockenheit. Als ich die Fahrt nach Kiew gebucht habe, war das Thema Corona in Deutschland bereits angekommen. Aber nicht bei mir. Eine Freundin, die mich über die Buchmessetage besuchen wollte, fragte mich Ende Februar, ob die Messe denn angesichts der Corona-Epidemie überhaupt stattfinde. Mir kam ihre Besorgnis ein wenig übertrieben vor. Eine Woche später kam die Absage von der Buchmesseleitung. Und dass Corona meine Kiew-Reise beeinflussen könnte, realisierte ich erst, als die Ukraine begann, die Grenzen zu schließen. Ich fragte Artëm, der in Kiew lebt, wie er die Lage einschätzte. Die Situation sei völlig unübersichtlich, antwortete er und riet mir, die Reise zu verschieben. Er hatte schneller begriffen als ich. In der ersten Zeit der Kontaktsperren habe ich mir stundenlang die Bilder des Ausnahmezustandes angeschaut. Leergehamsterte Regalreihen in den Supermärkten, erschöpfte Krankenpfleger, Ärztinnen, Patienten an Beatmungsgeräten auf den Intensivstationen, provisorische Corona-Kliniken, die an Feldlazarette erinnern, applaudierende Menschen auf Balkonen, der Papst, der auf dem menschenleeren Petersplatz betet, und vermummte Putzkolonnen, die – wie in Italien oder Spanien – Straßen und Plätze desinfizieren und die mich unweigerlich an die Tschernobyler Dekontaminierungstrupps erinnerten. Es sind Bilder, die das Potenzial haben, sich ins kulturelle Gedächtnis einzuschreiben. Was aber ist das verborgene Bild, das weniger ikonenhafte, das eher archäologische, das die tieferen Sedimentschichten eines Ereignisses einfängt? Das verborgene Bild der Katastrophe von Tschernobyl habe ich in Alexander Kluges Buch „Die Wächter des Sarkophags“ gefunden. Zu sehen ist ein ferngesteuerter Spielzeugraupenpanzer, auf dem eine Videokamera festgebunden ist. Der Raupenpanzer wurde aus dem Moskauer Kaufhaus GUM beschafft, um den „Elefantenfuß“ untersuchen zu können. Im Zuge der Reaktorexplosion war hochradioaktiver Brennstoff mit Sand und Siliciumoxid zusammengeschmolzen und als lavaartige Masse bis in den Keller des Reaktorgebäudes geflossen. Die Form dieses Gebildes erinnert an einen Elefantenfuß, daher der Name. In ihm tobt die Radioaktivität, man kann sich nur mittels ferngesteuerter Gerätschaften von einem abgetrennten Raum aus nähern. Als Kind hatte ich auch ein Spielzeugauto, das sich fernsteuern ließ. Es war kein Raupenpanzer, sondern ein Plastik-Wartburg der DDR-Volkspolizei. Als ich das Bild in Kluges „Die Wächter des Sarkophags“ sah, stellte ich mir die Wissenschaftler vor, die im Epizentrum des weltweit größten anzunehmenden Unfalls sitzen, so wie ich damals auf dem Teppich im elterlichen Wohnzimmer, und einen Spielzeugpanzer steuern, um Dinge zu erforschen, die sie sonst niemals hätten erforschen können. In ihrem kindlich anmutenden Fortschrittsoptimismus schien die Phantasie derart verkümmert zu sein, dass sie sich den GAU auch dann noch nicht vorstellen konnten, als er längst passiert war. Tschernobyl war das Fanal einer durch und durch technokratisierten Gesellschaft.
    Was aber ist das verborgene Bild der Corona-Pandemie? Vielleicht ist es ein Bild aus Bangkok, auf dem zwei Neugeborene zu sehen sind, deren erster Blick in die Welt durch ein Plastikschild geht, das sie schützt, damit sie sich nicht infizieren. Vielleicht ist es aber auch zu früh, diese Frage zu beantworten. Die Reise nach Kiew werde ich nachholen. Später. Nach der Krise. Dann eben September, hatte ich Artëm geschrieben, wenn die Kastanien auf die Autodächer fallen. Bang-bang-bang. Ich vermute fast, ich unterschätze das Virus schon wieder.

    Tina Pruschmann
     

    Gunther Neumann, Wien


    Sie sind mir nicht ganz unvertraut: Ausgangssperren. Als ganz junger Journalist waren sie für mich manchmal Nervenkitzel, sie waren ein Teil der Berichterstattung aus, gelinde gesagt, instabilen Krisengebieten. Wirklich persönlich betroffen war ich selten. Andere kosteten sie manchmal das Leben, Einheimische, die des Nachts von Maskierten abgeholt wurden; ohne dass es Zeugen gab; ohne dass sich die Familie irgendwo beschweren konnte. Auch später, bei der Arbeit in Afrika, waren Ausgangssperren ein lästiges Hindernis, zusätzlich zu anderen Hürden. Aber ich war privilegiert, und das Erlebte war wie ein spannendes Buch, das ich vorübergehend weglegen konnte, um müde, aber halbwegs ruhig einschlafen zu können.
    Und heute? Unsere Ausgangsbeschränkungen nerven mich. Sie sind wirtschaftlich schädlich. Aber sie sind nicht lebensbedrohend. Im Gegenteil, im Moment zumindest können sie Leben retten. Gerade durch die Erinnerung an ganz andere Krisen bin ich mir bewusst, wie privilegiert wir sind, hier im Norden unserer großen kleinen Welt. Und dass Privilegien immer auch ein Stück Verantwortung mit sich bringen. In der Krise fangen wir an, zu horten. Und dann, uns gegenseitig zu helfen.

    Gunther Neumann

    14. April 2020

    Erika Pluhar, Wien


    Brief an einen Freund

    Lieber K. -

    ich weiß, dass ich doch aus einer recht privilegierten Position heraus eure Einwände gegen die derzeitigen Beschränkungen unserer Lebensumstände beurteile. Aber ich kann mich den Beiträgen der von Dir zitierten Zeitgeist-Philosophen und auch Deiner Meinung nicht wirklich anschließen. Diesem Widerstand - und sei er auch intellektueller Natur und geistreich formuliert - gegen angeblich übertriebene Corona-Vorsichtsmaßnahmen und den daraus resultierenden, bedrohlichen wirtschaftlichen Einbruch.
    Wir Bürger unserer westlichen Zivilisation - lass es mich so nennen - haben uns in den Jahren davor um Leiden, Verrecken, Sterben, Ersaufen, Krepieren (nicht allzu weit entfernt von uns tägliche Realität) letztendlich keinen Deut geschert. Ein trübes “Oje”, ein bisschen Diskussion, viel mit Scheinverständnis bemäntelte Xenophobie, törichte Talks um den Begriff ‘Empathie’, bis man’s nicht mehr hören konnte, ein Verächtlichmachen anfänglicher Versuche zur Menschlichkeit (“wir schaffen das”) - und mehr und mehr Funkstille. Also Schulterzucken und “was soll unsereiner denn machen...” - die EU soll - die Völkergemeinschaft soll - aber uns, mich, soll man damit möglichst in Ruhe lassen...
    Jetzt hat es uns erwischt.
    In die Blase einer großteils verirrten, ver-rückten Wohlstandsgesellschaft (oh ja!) wurde hineingestochen - und sie ist zerplatzt.
    Natürlich - wie stets und bei allem - trifft es auch bei uns die Ungeschütztesten und Ärmsten. Jedoch fühlt sich auch der sogenannte Normalbürger plötzlich in einem Ausmaß mit Einschränkungen und Begrenzungen seiner Lebensansprüche konfrontiert, wie er es nie für möglich hielt. Er hechelt nach seiner “Normalität”. Dabei war so vieles, was unsere “Normalität” ausgezeichnet hat, nicht mehr normal. Mir persönlich fiel das in den letzten Jahren immer bestürzender auf die Seele und in den Verstand, und ich verweigere, das als Irrtum zu bezeichnen.
    Was wir an unserem Mensch-Sein, an der Natur, dem Planeten Erde, was wir auf dieser Welt an ihr, der Welt, verbrochen haben, ist unbestritten. Ich sehe also in dieser Virus-Katastrophe auch eine Belehrung. Eine Zurechtweisung. Zumindest eine Mahnung.
    Es wird so nicht angenommen werden, das ist klar. Die Unbelehrbarkeit wird wieder siegen. Jedoch in diesen Tagen, in dieser Stille und Vereinzelung, in die wir- wenn wir es zulassen - geworfen sind, läge ein großes Potential zur Veränderung.
    Zur Bewusstwerdung eines SINNES.
    Dass unser Leben Sinn haben möge.
    Ich lese gerade wieder “Briefe an Olga” unseres Freundes Václav Havel, die er in Gefängnis und Straflager geschrieben hat. Das ist eine Lektüre, die ich allen empfehlen würde.
    Trotzdem hoffe ich, Lieber, dass Du halbwegs gut über die Runden kommst und gesund bleibst – das, was wir uns eben alle zur Zeit wünschen - - -

    Eine erlaubte Umarmung per Mail –

    Erika

    Erika Pluhar
     

    Elisabeth Klar, Wien


    Aus meinen Versuchen, „Himmelwärts“ trotz aller Hemmungen aus der sozialen Isolation heraus ein bisschen selbst digital zu promoten (fühlt sich ein bisschen nach Ich-AG an, wäh), ist zumindest etwas Gutes herausgepurzelt: Meine Hauptfigur Sylvia hat ihren eigenen Twitter-Account bekommen. Und wieso auch nicht? Sie lebt ja wohl immer noch hier in Wien, und sie hat sich bestimmt eine neue Menschenhaut gefunden. Vielleicht eine, die sie an- und abstreifen kann, so wie die Frau, deren Menschenhaut sie ursprünglich gestohlen hat, es konnte und sie daher am Wochenende auf der Wäscheleine getrocknet hat. Irina wird Sylvia wohl zu dieser neuen Haut verholfen haben, und hat dafür auch sicher einen hohen Preis verlangt. Die menschliche Identität ist eine begehrte.
    Nur, was tut sie jetzt, die Füchsin, während der Pandemie, in der winzig kleinen Wohnung gemeinsam mit dem Eichelhäher Jonathan? Beklagen, dass das Himmelwärts zugesperrt hat. Stattdessen in der Wohnung tanzen, auf dem Bett hüpfen, hin und her und im Kreis laufen, weil Füchsinnen Bewegung brauchen, so furchtbar viel davon. Sich einen Job suchen, in dem sie systemkritisch an die Luft darf, vielleicht fängt sie an, als Fahrradkurier für kontaktlose Essenslieferungen zu arbeiten? Sich die Spannung und die Angst abstrampeln. Oder streift sie sich einfach die Haut ab vor ihren Exkursionen, weil sie jetzt als Fuchs erlaubter in den Gassen und Straßen ist denn als Mensch? Als Füchsin darf sie in die Parks und darf auf die Friedhöfe und wird sich nicht einmal anstecken, vermutlich.
    Sonst sich bei Jonathan verkriechen, sich in seinem Ohr oder in seinen Flügeln verbeißen, bis er sich umdreht und sie krault.
    Auf Twitter folgt sie immer noch vor allem Accounts, die Tierbilder posten, und so ist ihre Timeline beinahe coronafrei. @human_sylvia kümmern die Pläne für Massengräber in New Yorker Parkanlagen kaum, sie postet Bilder von Eiern, weil sie das hungrig macht, und #flauschthecurve verfolgt sie aufmerksam. Manchmal legt sie das Handy weg, weil sie auf Twitter Fotos von Fuchswelpen sieht und sich an ihren eigenen Wurf erinnert. Dann drückt sie sich an Jonathan oder wickelt sich in ihre Decke.
    Und ich, ich wechsle zwischen meinem Account und ihrem hin und her, weil ich nicht immer aushalte, was ich in meiner Timeline erfahre, auch wenn ich es wissen will. Nicht wegschauen, aber sich auch nicht erdrücken lassen. Keine Engels-, sondern Eichelhäherflügel.
    Was Jonathan macht? Ach, der hat sich sofort als außerordentlicher Zivildiener gemeldet, was auch sonst? Er arbeitet im Pflegeheim und schimpft zuhause bei Sylvia darüber, dass die Pfleger_innen keine ausreichende Schutzausrüstung zur Verfügung gestellt bekommen. Die alten Frauen hingegen halten sich gern an seinen Flügeln an, wenn er ihnen beim Aufstehen oder Aufsetzen hilft. Aber die Flügel sind ja jetzt stärker, und brechen nicht mehr unter dem festen Griff, und das ist ja auch schon etwas, immerhin.

    Elisabeth Klar
     

    Georg Fraberger, Langau bei Geras


    Gedanken zur Krise

    Die Tage verfliegen. Mit Schrecken lese ich im Internet, was anderswo passiert, und bemerke, dass ich mich für meine Freude über meine eigene Situation beinahe schäme. Es herrscht derzeit eine derartige Harmonie in meinem Alltag, dass ich wünschte, die Zeit bliebe stehen. Es gibt Tage, an denen führe ich nur ein oder zwei Telefonate. Früher waren es oft an die zwanzig pro Tag, manchmal mehr. Ich versuche mich so gut es geht nur mehr auf das zu konzentrieren, was mir wirklich wichtig ist. Hierzu zählt die Seele. Mit wie wenig materiellen Dingen so eine Seele auskommt, ist manchmal schon erstaunlich.
    Ich denke, dass die Krise uns die Möglichkeit gibt, den Wert der Dinge zu verändern. Wenn ich nämlich arbeite, um Geld zu verdienen, ist es das Geld, das als wertvoll erachtet wird. Wenn der Staat, so wie jetzt, auch dann Geld zur Verfügung stellt, wenn man seiner Arbeit nicht nachgehen kann, gibt es die Chance, dass die Arbeit selbst als wertvoll erachtet wird.
    Ostern: Gestern haben wir gemeinsam mit den Kindern die Passion Christi angesehen. Es war das erste Mal, dass wir uns mit den Kindern so intensiv mit dem Thema von Gut und Böse auseinandergesetzt haben. Es war unser erstes wirklich entspanntes Ostern. Und das, obwohl die Suche nach den Ostereiern bereits um knapp nach 6 Uhr in der Früh begonnen hat. Wenn ich mich erinnere, wie das früher war mit dem Osterfeuer, der Kirche, und dieser festlichen Stimmung, so wird mir ganz warm ums Herz. Mir fehlt doch etwas.

    Georg Fraberger

    13. April 2020

    Hinrich von Haaren, London


    Meine Wohnung und der Staub

    Meine Wohnung ist mein Reich. Hier lebe und schreibe ich. My home is my castle. Jetzt aber hat mein Reich seine Grenzen geschlossen, die Schlüssel zum Castle sind nicht mehr zu finden, und auf einmal kommt mir meine Wohnung gar nicht mehr so einladend vor. Sie grinst mich von morgens bis abends an und sagt: „sieh mal, was du hier alles zu machen ist“.
    Meine Wohnung führt mir nun meine häuslichen Unzulänglichkeiten vor: Ich wische nicht genug Staub (eigentlich gar nicht), ich putze die Fenster zu selten, ich sauge nicht gründlich, die Armaturen im Bad sehen stumpf aus vor Wasserflecken, gestrichen werden könnte auch mal wieder, die Bücherregale befinden sich in einem armseligen Zustand, aus den Schränken fallen beim Öffnen seit langem nicht mehr getragene Kleidungsstücke, die schon vor Jahren hätten entsorgt werden müssen, ganz zu schweigen von den Papierstapeln im Arbeitszimmer.
    Was bist du eigentlich für ein Faultier, sagt meine Wohnung, Zeit, nichts als Zeit, und du gibst vor, dich ginge das hier alles gar nichts an. Ich versuche meine nun sehr rechthaberische und aufdringliche Wohnung zu ignorieren, doch sofort landet mein Blick auf einem Häufchen Frühstückskrümel unter dem Esstisch.
    Einmal am Tag entkomme ich und gehe auf den von den Behörden zugelassenen Spaziergang. Entgegen kommen mir Passanten, die, ihrem selbstzufriedenen Ausdruck nach zu urteilen, alle in sehr ordentlichen Häusern wohnen, Leute, die mit ihrem Domizil auf bestem Fuße stehen. Solche Menschen sind mir zuwider. Wenn ich nach Hause komme, grinst meine Wohnung selbstzufrieden. Siehst du, es geht auch anders, sagt sie. Ich schalte den Fernseher an und gucke einen Krimi, starre aber die ganze Zeit nur einen Fleck auf der Mattscheibe an. Meine Wohnung hockt hinter dem Sofa und lacht schadenfroh.

    Hinrich von Haaren

    12. April 2020

    Niko Alm, Wien


    Quarantäne mit stummem U 

    Dass das Coronavirus nicht geistig stimulierend wäre, kann ihm kaum vorgeworfen werde. Wie viele Gedanken ich mir mache und wie viel ich dazulerne, erstaunt mich selbst. Ich erfahre Dinge über Reproduktionsraten, Verdopplungszeiten, Finanzmärkte, Fledermäuse und Pangolins, über die leichtfertige Bereitschaft österreichischer Politiker, Grundrechte außer Kraft zu setzen, und vieles mehr, dass ich als Bereicherung meiner Erfahrung ungern missen möchte.
    Die politische Verantwortung [Link: http://alm.at/politische-verantwortung-mit-covid-19/] beschäftigt mich dabei wohl am meisten.
    Das mit der Quarantäne hätte ich hingegen nicht gebraucht. Und damit meine ich nicht die Selbstisolation, also freiwillig zu Hause zu bleiben – das stört mich noch nicht sehr –, sondern das Wort an sich.
    Wir werden täglich mit diesem unsäglichen stummen U gequält. Muss das sein? Wie jedes deutsche Wort sollte sich auch die eingedeutschte quarantaine an die Regeln der geschriebenen Sprache halten. Auf ein Q folgt im Deutschen immer ein kleines U, was zur Folge hat, dass es auch als „Qu“ (also „Kw“) ausgesprochen wird. Ausgenommen sind naturgemäß nur Wörter, die nicht transkribiert werden wie Quiche, Quijote, Queue oder Quito.
    Aber die französische quarantaine wandelte sich ganz eindeutig zur Quarantäne und eben nicht zur Qarantän oder Karantän mit ebenso stummem E. Wer also Karantäne ausspricht, liegt jedenfalls falsch. Entweder Qarantän oder eben Quarantäne.

    Niko Alm
     

    Susanne Scholl, Wien


    Familie

    Man darf den Mut nicht verlieren in Zeiten wie diesen.
    Sag ich mir jeden Tag. Und tatsächlich funktioniert das sogar.
    Ich habe aber auch großes Glück. Meine Schwester schickt mir täglich Videos, die mich zum Lachen bringen. Meinen Bruder und seine Frau rufe ich hie und da an und wir tratschen. Und meine Kinder erkundigen sich häufig, ob ich auch ja nicht aus dem Haus gehe, meine Hände brav wasche, Maske und Handschuhe trage und auf keinen Fall in öffentliche Verkehrsmittel steige – und ob ich etwas brauche. Wenn ich das bejahe, bekomme ich das Gewünschte zur Wohnungstüre geliefert und kann mich ein paar Minuten in zwei Metern Abstand mit ihnen unterhalten.
    Familie eben.
    Aber ich bin auch mit vielen Freunden gesegnet. Die anrufen, sich erkundigen, wie es mir geht, mit mir über den Zustand der Welt palavern und mich fragen, ob ihre Kinder etwas für mich einkaufen sollen.
    Diese Freunde zähle ich auch zur Familie.
    Und dann sind da noch die Nachbarn, mit denen ich gemeinsam jeden Abend um 18.00 aus dem Fenster klatsche und Musik vom Handy in die Gasse vor unserem Haus klingen lasse. Die kaufen manchmal für mich mit ein, und ich revanchiere mich, indem ich backe und sie mit Keksen oder Striezel versorge.
    Ich lebe in der besten aller Welten in einer gar nicht so guten Zeit.
    Meine größte Angst ist, dass ich mich an dieses bequeme Leben so sehr gewöhnen könnte, dass ich mich über das Ende der Isolation womöglich gar nicht freuen könnte. Denn wer gibt Bequemlichkeit schon gerne auf?

    Susanne Scholl

    11. April 2020

    Kaśka Bryla, Leipzig


    Ich höre abwechselnd die Nachrichten aus Deutschland, Polen und Österreich. Oftmals nach dem Zufallsprinzip zappe ich durch verschiedene Radiosender und lande Sonntag Morgen auf einem polnischen Radiosender, als gerade ein Priester interviewt wird. Wahrscheinlich wäre mir das auf fünf anderen polnischen Sendern auch passiert. Der Priester ermutigt die Menschen in diesen Zeiten, innere Einkehr zu halten, sich zu sammeln und sich neu zu überdenken (also die Krise als Chance wahrnehmen), und während ich ihm zuhöre, frage ich mich, ob er selbst dieses Fenster auch nutzt. Ob vielleicht die katholische Kirche ihre Hetze gegen Lesben, Schwule, Trans- und Intersexpersonen Personen sowie Feministinnen während der Pandemie auch überdenkt und geläutert aus dieser Krise hervorgeht. Danach berichtet der Priester von einer Spendenkampagne für ein Krankenhaus. Es soll genug Geld zusammenkommen, um ein Beatmungsgerät zu kaufen. Eines! Mir wird ganz anders und ich wische den Sender vom Bildschirm meines Smartphones.
    In Deutschland warten die noch leeren Intensivbetten auf den Ansturm. Aber es wird mit großer Sorge über die diesjährige Spargelernte gesprochen. Wo doch jetzt die (unterbezahlten) polnischen Saisonarbeiter*innen abgezogen sind...
    Wenn ich keine Nachrichten höre, arbeite ich, im Moment an der Recherche zu einem Essay für die kommende Ausgabe der Literaturzeitschrift PS-Politisch Schreiben. Er reflektiert die Entwicklung von Kooperation innerhalb des Literaturbetriebs anhand des altbewährten Gefangenendilemmas.
    Beim Gefangenendilemma handelt es sich um ein Zwei-Personen-Nicht-Nullsummenspiel. Es bestehen beiderseits sowohl gemeinsame als auch konfligierende Interessen. Das Ergebnis der Entscheidung der einen Partei ist von der Entscheidung der anderen Partei abhängig. Das Verhalten der Akteur*innen beeinflusst sich wechselseitig. Die Entscheidungen werden simultan, aber unabhängig voneinander getroffen, und die eine kennt die Entscheidung der anderen Akteur*in nicht. Jede Akteur*in versucht, mit der Strategie, die ihrem rationalen Verhalten entspricht, unter den gegebenen Beschränkungen ihren eigenen Nutzen zu maximieren. Im klassischen Gefangendilemma ist es für beide Akteur*innen die dominante Strategie zu defektieren, also die Zusammenarbeit miteinander abzulehnen. Das bedeutet, dass Defektion für jede einzelne vorteilhafter ist als Kooperation, egal was die andere tut. Wenn allerdings wirklich beide defektieren, erzielen sie damit den minimalsten Gewinn.
    Für die klassische Illustration des Gefangenendilemmas wird der Fall zweier Straftäter, die eines gemeinsamen Verbrechens beschuldigt werden, herangezogen. Sie werden getrennt voneinander verhört und wissen nicht, was der jeweils andere aussagt. Gestehen beide, erhalten beide eine hohe Strafe, aber nicht die Höchststrafe. Gesteht jedoch nur einer, geht dieser als Kronzeuge straffrei aus, während der andere als überführter, aber nicht geständiger Täter die Höchststrafe bekommt. Wenn keiner gesteht, sie also miteinander kooperieren, oder anders ausgedrückt, sich aufeinander verlassen, machen sie in der Summe den größten Gewinn, also bekommen zusammen die niedrigste Anzahl von Jahren im Gefängnis. Dieses Dilemma versuche ich, auf „das Prosa Debüt“ im Literaturbetrieb anzuwenden.
    Dazwischen werde ich abgelenkt. Ich höre, wie jemand aus meinem Kollektiv meint, er finde es krass, wie Polen die Grenzen dicht gemacht hat. Man könne nicht einmal mehr durchreisen.
    Ich entgegne, dass es bei dem Gesundheitssystem, das Polen habe, die logische Konsequenz sei. Gäbe es ein überregionales europäisches Gesundheitssystem, ließen sich die Grenzziehungen während einer Pandemie anders verhandeln. Noch etwas unbeholfen rücke ich meinen Mundschutz zurecht.
    Mein Smartphone vibriert. Eine Freundin, die gerade noch auf der Sea Watch 3 im Hafen liegt, schreibt aufgeregt: Die Alan Kurdi hat heute um die 150 Menschen aus Seenot gerettet!
    Wie cool!, antworte ich und kann nicht anders als gleichzeitig an das Camp in Moria auf Lesbos zu denken, in dem seit 2015 Geflüchtete darauf warten, auf die Mitgliedstaaten der EU verteilt zu werden, und mich gleichzeitig zu fragen, was in Folge aus den 150 geretteten Menschen der Alan Kurdi werden wird. Wo sie leben werden. Im jetzigen Stadium der europäischen Kooperation oder Defektion.

    Kaśka Bryla

     

    Robert Streibel, Wien


    Sowas kann nur ein Traum sein

    Masken, Virus: alles wie im Krieg. Und ein Kampf gegen einen heimtückischen Gegner. Ich schlafe immer gut, aber seit ein paar Tagen träume ich Fürchterliches. Ich muss keine Moorhühner abschießen, aber irgendwelche anderen Tiere mit Tentakeln. Überleben kann ich nur, wenn ich eine Maske habe. Und dann bekomme ich mitten im Spiel einen Anruf, der Bundeskanzler lässt anrufen, er braucht eine Maske. Ganz dringend, nirgends gebe es welche. Ob ich ihm nicht eine verschaffen könne. Die Nähwerkstatt mit den Flüchtlingen würde doch Masken nähen, habe man ihm gesagt. Das Nähprojekt hat wirklich alles für dieses Spiel, und so liefern die Geflüchteten aus Afghanistan und dem Irak Masken für den Kanzler. Unruhig schüttle ich meinen Kopf und beschließe eine Schlagzeile zu formulieren. „Wie im A… muss eine Regierung sein, die Flüchtlinge nicht will, aber dann braucht, damit sie sicher sind…“ Ich bin nicht fertiggeworden mit dem Formulieren, aber so ähnlich sollte sie lauten. Da ich mich so oft hin und her geworfen habe, werde ich munter, stehe auf, gehe in die Küche und suche mein Handy. Kein Anruf von Kurz: Sowas kann nur ein Traum sein. Oder?

    Robert Streibel

    10. April 2020

    Nuno Maulide, Wien
    aufgezeichnet von Tanja Traxler


    Forschen in Zeiten der Corona-Krise

    Am Anfang dachte ich mir: Endlich viel mehr Zeit! Inzwischen ist eine gewisse Ernüchterung eingekehrt. Denn auch für einen Wissenschafter ist es im Home-Office viel schwieriger, die Zeit effektiv zu nutzen.
    Seit Freitag, dem 13. März, ist meine Forschungsgruppe nicht mehr im Labor an der Universität Wien tätig. Damit die Arbeit trotzdem weiterläuft, habe ich all meinen Mitarbeitern Aufgaben gegeben, die sie zuhause durchführen können. In den ersten zwei Wochen habe ich wahnsinnig viel korrigiert: einige Arbeiten, die ich schon seit Wochen korrigieren sollte, und viele neue, die seither dazukamen. Doch die Interaktion in der Gruppe hat sich sehr verändert. Wenn ich dieser Tage Seminare mit meinen Mitarbeitern und Kollegen abhalte, hat das ein ganz anderes Flair. Statt die Menschen persönlich zu treffen, sehe ich jetzt 25 kleine Video-Kästchen dicht gedrängt auf meinem Bildschirm.
    Für uns Forscher ist es natürlich gut, wenn wir einmal Zeit haben, um zu lesen und in Ruhe über unsere Forschung nachzudenken. Bisher muss ich aber sagen: So viel mehr habe ich noch nicht gelesen. Wenn ich über meine Forschung nachdenke, verspüre ich eine große Unruhe: Ich möchte etwas beitragen, damit wir schneller wieder aus dieser Krise herauskommen.
    Ein unmittelbarer Beitrag könnten Schutzmasken, Handschuhe oder Desinfektionsmittel sein. Forschungsorientierte Beiträge haben hingegen eine viel längere Vorlaufzeit. Wenn wir heute beginnen, Moleküle zu entwickeln, die gegen Covid-19 pharmazeutisch eingesetzt werden könnten, erreichen wir – wenn wir Glück haben – in ein paar Jahren das Ziel. Mehr Hoffnung machen mir Wirkstoffe, die wir bereits kennen. Wir untersuchen also, ob unter jenen Molekülen, zu denen meine Gruppe geforscht hat, eines dabei ist, das gegen Covid-19 eingesetzt werden könnte.
    Was ich als Forscher in der jetzigen Krise ermutigend finde, ist, dass die Politiker in den meisten Ländern jetzt auf wissenschaftlichen Fakten basierende Entscheidungen treffen. Ich hoffe, dass das auch nach der Corona-Pandemie so bleiben wird.

    Nuno Maulide
     

    Gunther Neumann, Wien


    Der Tourismus auf unserem Kontinent steht still, Hotels sind geschlossen. Hotel Mama-Papa hat geöffnet, „24/7, all inclusive“. Andere Eltern verstehen uns nur allzu gut. Manche unserer Freunde ohne (Klein)Kinder preisen die Verlangsamung: in Ruhe ein paar Gedanken über die weitere Zukunft spinnen, ein gutes Buch lesen. Schön. Aber kaum möglich mit Kleinen, die ohne Kindergarten, ohne Freunde sind, verunsichert, die viel streiten und volle Aufmerksamkeit einfordern. Von Entschleunigung spüren wir wenig, außer, wenn wir dann am Abend unseren Zustand, nämlich Erschöpfung, als Entschleunigung bezeichnen wollten.
    Beschleunigung war die Metapher der Moderne: Dampfmaschine, Zug, Auto, Flugzeug, Globalisierung, High-speed Internet. Trotz so vieler Mutmaßungen und Prophezeiungen im Feuilleton: wohl niemand weiß, was nach der Krise kommt. Die „Reduzierung auf das Wesentliche“? Statt „schneller, höher, stärker“ plädierte der Südtiroler Grüne Alexander Langer schon vor 30 Jahren für „langsamer, tiefer, sanfter“. Alexander Langers Bruder Martin, pensionierter Intensivmediziner in Mailand, bleibt in einem Gespräch mit der Journalistin Susanne Barta skeptisch: „Ich fürchte, dass nach Corona das wirtschaftliche Nachholbedürfnis so groß sein wird, dass alles, was vielleicht gewonnen wurde, wieder wegfällt. Ich denke, alles wird sich auf die Wiederherstellung der Wirtschaft konzentrieren, nicht auf ihre Veränderung. Vielleicht ist es ja auch das Dringendste. Aber eine Systemveränderung, fürchte ich, ist vor allem ein intellektueller Wunsch.“

    Gunther Neumann
     

    Georg Fraberger, Langau bei Geras


    Die Zahlen der Toten steigen und damit auch meine Freude, dass ich in Sicherheit sein kann. Die meisten Menschen, denke ich, sind froh, wenn sie gesund und dem Virus nicht ausgesetzt sind. Dennoch lese ich immer wieder darüber, dass das Virus die Aufgabe habe, die Welt von den Alten und Schwachen zu befreien. Diese Meinungen machen mich total sprachlos. Ich frage mich, für wen gibt es denn Ärzte, wenn nicht für die alten und kranken Menschen? Mit Schrecken bemerke ich, dass in einer Ausnahmesituation plötzlich auch solche Behauptungen eine Berechtigung bekommen. Eigenartig.

    Georg Fraberger

    9. April 2020

    Lukas Kummer, Kassel


    Nach zwei Wochen setzt allmählich eine lähmende Müdigkeit ein. Mein Kopf wiegt mindestens 20 Kilo und jeder Gedanke genauso viel. Das Gemüt ist das eines Schlaflosen, trotz viel Schlaf. Ich lese viel, bin viel im Internet, schaue viel fern, alles mit einem Beigeschmack von Unzulänglichkeit. Ich habe einen Heißhunger auf Unterhaltung, ich bin ein Zombie. Das Zu-Hause-Bleiben fordert seinen Preis. Und dabei bin ich ein sehr geübter Zuhausebleiber. Wie mag es wohl den anderen damit gehen?
    Und ja, es ist ein Luxusproblem, und danke an alle, die gerade die Welt retten. Ihr seid die wahren Helden, etc. etc.
    Wir schauen Netflix. Dass wir uns auf ein Programm einigen konnten, gleicht einem Wunder! Sie, interessiert an Psychologie, ich, ein Österreicher, da schien uns eine Serie über Sigmund Freud eine gute Schnittmenge zu sein. Was soll ich sagen? Corona vergiftet die Welt, Netflix die Wohnzimmer. 
    In “Freud” kämpft der knallharte Erfinder der Psychoanalyse (Badass!!) nicht bloß gegen die Vorurteile seiner Karikaturen von Kollegen, nein, er muss auch allerlei Gespenstern und Fabelwesen die Stirn bieten! Wahrscheinlich bedient sich die Serie des Scooby Doo - Prinzips, also am Ende war gar nichts übersinnlich, es war nur der Hausherr im Geisterkostüm, der die lästigen Mieter hinausgruseln wollte, was weiß ich, habe mir diesen Scheißkram nicht bis zum Ende angeschaut. Die Serie ist historisch nicht ganz korrekt, dafür aber geht es zack, bumm, krach, mit der Stiefelspore volle Wucht in die Großhirnrinde des zuschauenden Opfers.  Für Georg Friedrich lohnt es sich aber, der ist in seiner Rolle wieder einmal super. Außerdem möchte ich mich nicht mit ihm anlegen.
    Wir versuchen eine andere Serie. „Jerks“. Die Ästhetik kennt man aus tausend Vorlagen. Hollywood oder die BBC machts vor, der deutsche Markt verpackt es neu und spuckt es wieder aus. Er hat seit 50 Jahren keine eigene Stimme mehr. Er tauscht Larry David gegen Christian Ulmen und Fahri Yardim und tut so, als wäre das unfassbar originell. Alles ein bisschen zu gewollt.
    Ich bin kein Kulturschnösel, ganz bestimmt nicht. Ehrlicher Schund, welcher die Leute nicht für dumm verkauft, im besten Fall noch doppelbödig, sodass jeder dran reicht, ist mir das liebste! Für mich waren es nie Spielberg oder Lynch, immer eher Carpenter und Verhoeven. Was Geschichten betrifft, spreche ich mir selbst einen analytischen Blick zu. So wie Freud! (zack, bumm!) Immerhin habe ich “story” von Robert McKee gelesen, das macht mich zu einem Experten. Ich war immer der Meinung, die Vision eines Erzählers sei nur eine Richtlinie, kein Diktat. Man sei als Schaffender mehr Zuarbeiter als Bauherr. Stattdessen zerbricht das Unterhaltungskino heute unter der Last so mancher Vision. Blockbuster sind krumme Monumente, unter dem Gewicht eines Regisseuren-Egos konnten sie nie richtig wachsen. Naja, das sind jetzt ein paar Gedankenbrocken aus einem halbwachen Schädel. 
    Entweder ich lese jetzt die Hemingway-Biographie weiter, oder ich melde mich zur Feldarbeit. Hemingway hat gerade den Eiffelturm umgeboxt. 
    Ich hoffe, sie brauchen mich beim Spargelstechen.  

    Lukas Kummer
     

    Kurt Kotrschal


    Auch wenn wir es schwer haben mit ihnen: Ohne Viren gäbe es keine Menschen.
    Für das unbewaffnete menschliche Auge ist Covid-19 unsichtbar. Erst Elektronenmikroskop und farbige Rekonstruktionen offenbaren die Schönheit dieses Monsters, seine elegante Funktionalität. Das Größenverhältnis zwischen Virus und Mensch ist ungefähr so wie das vom Menschen zum Planeten Erde. Bis an die Grenze zur Nichtexistenz winzig, ist es doch ein höchst manipulatives Monster: Es veranlasste besorgte Menschen, alle bisherige Regeln des Zusammenlebens außer Kraft zu setzen.
    Lächerlich eigentlich, denn Viren leben nicht, sie haben keinen Stoffwechsel und können sich nicht vermehren, außer in uns „echten“ Lebewesen, indem ihre Vermehrungsmechanismen unseren Stoffwechsel kapern. Viren sind eine minimalistische molekulare Struktur aus Erbmaterial sowie ein paar Proteinen und Lipiden, die ihre Hülle bilden; manche haben Viren nicht mal die. Viren sind die wohl extremsten Trittbrettfahrer unter den Parasiten.
    Wäre Covid-19 ein greifbares Ungeheuer, das Heer könnte es beschießen wie weiland King Kong. Wäre es wenigstens so groß wie ein Floh, man könnte es zerdrücken wie Spitzwegs armer Poet. Viren machen uns schon allein deswegen Angst, weil wir sie nicht sehen und weil sie alle unsere Verteidigungsstrategien unterlaufen – einschließlich die unseres Immunsystems. Um mit Covid-19 fertig zu werden, braucht es schon Spitzenwissenschaft, Genetik, Biochemie. Gut, dass unsere Gesellschaften bislang die Vernunft wenigstens in Form der Wissenschaften gewähren ließen!
    Aber so sehr wir Viren auch scheuen und fürchten – ohne sie gäbe es keine Säugetiere und daher auch keine Menschen. Viren ließen uns einerseits entstehen, andererseits bedrohen sie unser Leben. Wenn es Gott gibt, beliebt er ziemlich hinterhältig zu scherzen.
    Ein erheblicher Teil des menschlichen Genoms besteht aus integrierter Erbinformation von Viren. Meist von Retroviren wie Covid-19. Die enthalten RNA, die mittels der biochemischen Maschinerie unserer Körperzellen sofort in entsprechende Virenprodukte umgesetzt wird; um in die Zellkerne des infizierten Individuums aufgenommen zu werden, muss die Viren-RNA zuerst mittels eines Enzyms in entsprechende DNA umgeschrieben werden. Und weil sie so auch die Keimzellen erreicht, vererben wir diese unfreiwillig erworbene Erbinformation unseren Nachkommen. Wird sich auch Covid-19 in menschlichen Genomen einnisten, bleibende als Erinnerung an 2020?
    Allzu genau wissen wir noch nicht, was das Virengenom in uns treibt. Klar ist heute aber, dass die über Darm und Schleimhäute aufgenommen Virengenome für gewaltige Weichenstellungen in der Evolution sorgten. Eines davon ließ vor etwa 220 Millionen Jahren echte Gebärmütter – und damit Säugetiere – entstehen. Zu denen gehören bekanntlich auch wir. Die Evolution (der liebe Gott?) bediente sich also ausgerechnet der Viren, um die „Krone der Schöpfung“ hervorzubringen.
    Damit nicht genug. Unser Mikrobiom wiegt etwa 2kg, es besteht aus mehr Mikroorganismen, als unser eigentlicher Körper Zellen hat, auch aus Viren. Wahrscheinlich tun sie in unserem körpereigenen Ökosystem das, was sie sonst auch tun: Bakterien, Pilze & Co parasitieren und Erbmaterial übertragen. Menschen sind aber nicht bloß passiver Lebensraum, sondern gemeinsam mit ihrem Mikrobiom evoluiert. Das beeinflusst körperliches und seelisches Wohlbefinden, verteidigt uns auch gegen krank machende Bakterien und Viren. Ein gesunder Lebensstil in Kontakt mit Tieren und Natur hegt und pflegt es. Also: Hund streicheln, in der Erde wühlen, es mit der Körperhygiene nicht übertreiben und Antibiotika nur im Notfall nehmen. Das hält unser Mikrobiom stabil und abwehrfähig – und uns gesund und hoffentlich glücklich, Viren hin oder her.

    Kurt Kotrschal

    8. April 2020

    Katja Buschmann, Zschaitz (Mittelsachsen)


    Hier, auf dem Land, merkt man es kaum. Spiel- und Sportplatz sind gesperrt, rot-weißes Absperrband flattert im Wind. Im Schaukasten, wo sonst Gemeinderatssitzungen und Fußballspiele angekündigt werden, hängt eine Anleitung zum Händewaschen. Der Gasthof ist jetzt ein Lieferdienst. Abstand gibt es ohnehin, zum Garten nebenan, in dem Kinder spielen, und auch zur Krise.
    Bis sich im Nachbarsdorf eine Familie mit dem Virus infiziert. Kurz darauf ein Aufruf in den sozialen Medien, diese Familie doch bitte in Ruhe zu lassen, sie habe sich schließlich nicht absichtlich angesteckt. So ist es auch, auf dem Land. Alles identifizierbar, rückverfolgbar.
    Ich telefoniere mit einer Freundin in Israel. Gehamstert wird ebenfalls, allerdings kein Toilettenpapier. Stattdessen sind die Eier aus. Eigentlich wollte meine Freundin über Ostern nach Deutschland kommen. Den Flug konnte sie auf Ende August umbuchen: „Falls man dann fliegen kann.“ Pause. „Falls es dann noch Fluggesellschaften gibt.“
    Jedem Thema, das wir anschneiden, folgt ein „falls“: Falls es dieses noch gibt, jenes. Buchläden. Cafés. Alte Menschen, entfährt es meiner Freundin, sie hat Bilder aus New York gesehen. Ein Feldlazarett im Central Park. Wir schweigen. Im Garten nebenan quietscht das Trampolin bei jedem Auf und Ab, ein gleichmäßiger Takt. Es ist ein sonniger Tag, und man könnte hier auch vergessen, dass es eine Krise gibt, ein Virus, das die Welt in Atem hält. Meine Freundin sagt: „Ich wollte ja schon immer mal mit dem Schiff fahren.“
    Falls man dann mit dem Schiff fahren kann.

    Katja Buschmann
     

    Ursel Nendzig, Wien


    Inzwischen sind die Einladungen völlig unverblümt: „Heute 20 Uhr Zoomsaufen?“ textet meine Freundin.
    Vor zwei Wochen haben wir noch so getan, als würden wir uns gesittet über unsere Situationen austauschen, dabei ein, maximal zwei Gläser Wein trinken. Es ist aber nicht so einfach mit dem Online-Trinken. Ich konzentriere mich die ganze Zeit so sehr auf das kleine Bildchen rechts unten, schaue mir selber zu, wie ich trinke, sodass es viel zu schnell viel zu viel wird, ich eine schlechte Internetverbindung vortäuschen und mich aufs Sofa zum Ausrasten legen muss. Dort schlafe ich dann gegen 21:00 ein.
    Auch das Ausreden-lassen hat sich schon wieder wegevolviert. Anfangs dachte man: Diese Online-Chat-Situation zwingt uns dazu, die anderen aussprechen zu lassen, weil man sonst gar nichts mehr versteht, und jetzt wird wieder so viel Rücksicht aufeinander genommen. Das halte ich aber mit jedem Glas schlechter aus. Ich schreie also meine Sätze einfach so lange und so laut in den Computer, bis ich auf den anderen Bildern beobachten kann, dass alle aufgegeben haben.
    Das wird ein Nachspiel in der echten Welt haben, fürchte ich. Eines Tages.
    Apropos echte Welt: Auch hier rauscht die Verbindung schon etwas. Die innerfamiliäre Gesprächskultur hat sich drei Klassen nach unten nivelliert. Auch hier lässt niemand den anderen mehr aussprechen, obwohl eigentlich genug Zeit wäre. Oder noch schlimmer: man beendet die Sätze des anderen, ergänzt um: „Hast du schon dreimal gesagt“. Es scheint, als hätten sich die Stimmen schon abgenutzt, die Kinder sind für meine Frequenz schon völlig abgehärtet. Der Kleine pupst, während wir essen. Ich rolle mit den Augen, aber er täuscht auch eine schlechte Verbindung vor.
    Noch zwei Stunden bis Zoomsaufen.

    Ursel Nendzig

    7. April 2020

    Robert Streibel, Wien


    Wenn die Augen lächeln

    An den Augen erkennt man, ob jemand lächelt. Ich bin gespannt, ob ich diese Fertigkeit ausbilden kann. Leider ist es so, dass ich es nie überprüfen werde können. So gesehen, bin ich pessimistisch, denn in unseren Breiten gehört das Lächeln einfach nicht zur Kultur. Es gibt Menschen, die mich herausfordern, bei denen ich mir denke, den oder die möchte ich zum Lächeln bringen, und wenn mir das gelingt, dann wird alles gut.
    Gestern war ich auf der Post, dort arbeitet eine nette Person, die auf meiner Aufgabenliste Lächeln ganz oben steht. Bevor ich an die Reihe komme, stehe ich im Freien, das Wetter ist gut, die Warteschlange ist lange, sehr lange. In einer so langen Schlange bin ich das letzte Mal 1978 gestanden, um mich für eine Karajan-Aufführung des „Troubadour“ anzustellen, natürlich mit dem kleinen Unterschied, dass die Menschen damals dicht gedrängt waren.
    Ich habe Zeit, mich vorzubereiten: Werde ich es heute schaffen? Nicht eine Stehplatzkarte zu ergattern, sondern die Postbeamtin zum Lächeln zu bringen. Ich habe viele Pakete. Das ist der zweite Tag, an dem ich mit vielen Paketen komm. Seitdem ich für die Grätzlbuchhandlung in Lainz die Pakete zur Post bringen darf – Nachbarschaftshilfe –, falle ich auf. Sonst habe ich nur Briefe.
    Heute ist ein besonderer Tag, denn heute sind endlich die Schutzmasken geliefert worden, ab morgen werden sie getragen – ich höre, wie die beiden Postlerinnen unterhalten. Heute ist also der letzte Tag, wenn ich es heute schaffe, dann weiß ich, wie sich die Augen verändern beim Lächeln.
    Nicht alle Adressen sind schön leserlich geschrieben gewesen auf den Paketen, als sie bei einer Adresse nachfragt, mache ich einen Witz, er war, glaube ich, nicht gut, eigentlich kein Witz, als Entschuldigung gedacht, irgendwie halt… und da ist es passiert. Es war ein kurzer Anflug eines Lächelns.
    Ab morgen werden wir alle Masken tragen, doch alles wird gut, denn ich erkenne jetzt hinter allem Stoff und Papier das Lächeln.

    Robert Streibel
     

    Daria Wilke, Wien


    Er liegt, von der Krankheit hingestreckt: die Augen geschlossen, der muskulöse Arm hängt hilflos – ich kann den Blick von der Skizze François Perriers nicht abwenden. Die Zeichnung aus der graphischen Sammlung der Albertina heißt „Studie eines Pestkranken“ und stammt aus dem siebzehnten Jahrhundert. Ein Kinngrübchen, die mit Rötel angedeuteten Linien des nackten Körpers und der feine Abriss des Halses – ich kann es einfach nicht lassen, ihn anzusehen. Nicht nur wegen der Pest, sondern weil er so schaurig-schön ist. Über die Zeichnungen Perriers ist fast nichts bekannt, aber wahrscheinlich ist diese Skizze ein Entwurf für sein Bild „Der Heilige Rochus bittet für die Pestkranken“. Rochus, Patron der Kranken. Ein Heiliger, der Pest, Cholera und alle möglichen Seuchen abwenden kann, der Ärzte, Apotheker, Totengräber, Spitäler und Siechenhäuser beschützt – ein Heiliger für heutige Zeit also.   
    War die Szene, die Perrier zeichnete, nachgestellt? Oder skizzierte er wirklich einen Pestkranken, in einem Pestlazarett oder auf der Straße? Er war ja vielleicht gerade in Italien, als die Epidemie im Norden des Landes ausbrach... Was dachte er sich dabei? Hatte er Angst?
    Auf einmal haben Lebensgeschichten großer Künstler für mich eine andere Bedeutung, mit jedem Tag der Pandemie nehmen sie eine neue Dimension an: Caravaggio verlor seinen Vater und Großvater an die Pest, Rembrandt seinen Sohn Titus und Rubens seine erste Frau Isabella. Michelangelo flüchtete von der Pestepidemie in Florenz nach Rom und wurde dort erfolgreich, Tintoretto schuf seine besten Werke, während die Seuche Venedig abermals entvölkerte, Tizians „Pietà“ blieb wegen der Pest unvollendet, und Hans Holbein malte in London sein Selbstbildnis kurz bevor ihn die Krankheit holte – das erste und das letzte Mal, dass er sich selbst poträtierte.
    Die Kunst ist regelrecht verseucht: die Pest ist eine Lebensgefährtin der Künstler und ihr großes Thema – warum habe ich das früher nicht gemerkt? Wie fühlte sich das an? Versuchten sie vor der Todesangst in die Kunst zu fliehen - oder trotzten sie mit ihrer Kunst dem Tod? Glich jeder Kunstakt einer Heldentat? Sind ihre Werke deshalb so ausdrucksstark geworden, weil sie – egal, wie düster sie zu scheinen mögen – eine lebensbejahende Aussage sind?
    Sie alle sind mir auf einmal näher denn je - ich überlege, was sie jetzt, heute tun würden. Würde Caravaggio eine Gesichtsmaske tragen – oder hätte er gegen Einschränkungen rebelliert? Hätte El Greco auf Instagram eine freche Künstlerinitiative gegen Coronavirus gestartet? Würde Rubens sein diplomatisches Netzwerk nützen, um Schutzausrüstung für Spitäler aufzutreiben?...
    Medien in allen Sprachen sind mit Zukunftsdeutungen überfüllt – ein ohnmächtiger Versuch, die Kontrolle über das Ungewisse zu gewinnen. Die Welt nach Corona wird neu sein und keiner weiß, was von dieser Welt zu erwarten ist. Ich weiß es auch nicht, ich versuche, statt der Zukunft die Vergangenheit zu deuten. Und wenn ich zurückblicke, ist mir eines bewusst: es kann sein, dass diese neue Welt eine neue Kunst brauchen wird. Kunst, die über Elend, Ausweglosigkeit und Angst siegen kann, die die Hoffnung auf eine neue Renaissance nährt – auf eine persönliche Renaissance zumindest. Kunst, die vielleicht gerade jetzt entsteht?

    Daria Wilke

    6. April 2020

    Michael Laczynski, Wien


    Jäger und Sammler

    Seitdem die Seuche Wien erreicht hat, ertappe ich mich immer wieder dabei, an meine Kindheit in der Volksrepublik Polen zu denken. Die Kindheit war gut, die Umstände schlecht. Zucker, Butter, Fleisch, Klopapier, Bücher – selbst der läppischste Scheiß musste im wahrsten Sinne des Wortes erstanden werden, sofern es ihn überhaupt gab. Und als im Dezember 1981 das Kriegsrecht ausgerufen wurde, war der Ofen gänzlich aus. An jeder zweiten Kreuzung ein Panzer, die Fernsehsprecher uniformiert (um sie im Falle einer live übertragenen Insubordination standrechtlich erschießen zu können), Ausgangssperre um 22 Uhr, und bei der Ausreise aus dem Wohnort wurde man von Soldaten kontrolliert. Soldaten fand ich damals cool – schließlich wollte auch ich, wie viele meiner Volksschulfreunde, entweder Kriegsheld oder Kosmonaut werden. Aber seit damals habe ich eine regelrechte Allergie entwickelt, was Kontrollen anbelangt. Immer, wenn ich eine Grenze überqueren darf (bzw. muss), werde ich nervös und kriege feuchte Hände. Und das Warten in der Schlange macht mich leicht aggressiv.
    Angesichts dieser Vorbelastung müsste ich mit den Corona-bedingten Einschränkungen des Alltagslebens eigentlich schlecht zurechtkommen. Dem ist aber nicht so, was mich selbst ein wenig überrascht hat. Ich habe mich, ohne zu murren, in die neue rot-weiß-rote Stammesgemeinschaft der Jäger und Sammler eingefügt. Im Supermarkt halte ich Abstand – und Ausschau nach interessanten und raren Waren. Während die Bedeutung von Klopapier meines Erachtens nach sehr überbewertet wurde – es gibt schließlich Zeitungen -, verhält es sich mit frischer Hefe genau umgekehrt. Zu meinem Leidwesen ist sie überall ausverkauft. Eigentlich habe ich vorgehabt, die Zeit daheim zu nutzen, um den traditionellen Germkuchen nach dem Rezept meiner Großmutter zu backen, den es bei uns daheim zu besonderen Anlässen gab. Daraus wird leider nichts, solange dieser Lieferengpass nicht behoben wird.
    In der Volksrepublik war Hefe übrigens immer zu haben – selbst in den dunkelsten Stunden des Kriegsrechts spendete Omas gelber Krisen-Kuchen einen blassen Schein Wohligkeit und Normalität. Dass ich eines Tages auf eine Produktkategorie stoßen würde, in der die sozialistische Planwirtschaft der freien Marktwirtschaft überlegen war, hätte ich mir noch vor wenigen Wochen nicht gedacht. 

    Michael Laczynski
     

    Clemens Berger, Wien


    Brief an Amalia

    Wir schreiben Woche drei der Isolationszeit: Deine Großeltern siehst Du nur auf unseren Telefonen, die Stadt ist beinahe im Stillstand, immer öfter weichen uns Menschen auf der Straße aus — Kinder gelten als Virenschleudern. Du blickst mit großen Augen in die Gegend und brabbelst. Du fasst mir ins Gesicht und zwickst mich in die Nase. In der Bäckerei, in der wir morgens Cappuccino und Nusskipferl holen, bist Du ein Lichtblick. Längst kennen wir den Namen des Enkels einer Verkäuferin. Sie sieht ihn nur auf ihrem Telefon.
    Dich bekümmert das Virus nicht. (Obwohl wir Dich derzeit Rudi nennen, weil Du dieselbe Frisur wie der Gesundheitsminister hast.) Du greifst nach allem, was Dir unterkommt, blitzschnell steckst Du es in den Mund, die Ladekabel unserer Telefone haben wir mit Klebeband umwickelt. Kabel haben es Dir besonders angetan; weil es davon genügend gibt, zerrst Du an ihnen, dass es eine Freude ist. Bisweilen habe ich den Eindruck, Du ahmtest manche der Leibesübungen nach, die Dein Vater nun zuhause ausführt, während Du ihm belustigt zusiehst und mit den Armen ruderst. Du dienst ihm auch als verstärkendes Gewicht bei Kniebeugen, seit heute bei Klimmzügen. Weil Dich derzeit nichts mehr ärgert als Stillstand, frohlockst Du dabei.
    Heute will ich mich bei Dir bedanken: nicht nur für das Lachen jeden Morgen, wenn ich aufwache und Dich in Deinem Bettchen liegen sehe, mit weit geöffneten Augen, den Schnuller untersuchend und kleine Reden haltend. Danke, dass ich mit Dir laut auf der Straße reden und singen und allerlei Unsinn reimen kann! Der kleine Bärlauchbär heißt so ein Lied, aber auch Amalia, das Fidikind, mit immer variierenden Strophen — und viele andere Stücke, von denen ich Dir einmal erzählen werde. Meistens habe ich Dich umgeschnallt. Wenn Du im Wagen geschoben wirst, winkst Du gern, während wir uns ausgezeichnet unterhalten; alles, was Du zu Boden wirfst, kommt in Quarantäne, nur Dein Plastkifisch wird konfischziert. Manchmal ahme ich einfach nach, was aus Dir kommt. Das erfreut Dich ungemein: Deinen Lauten wird Gehör geschenkt. Es gibt diese Sprache. Ich glaube, Du wunderst Dich bloß, dass nicht alle Wesen auf zwei Beinen diese runden Dinger im Mund haben, die Du so liebst.
    Während die Himmel flugzeugfrei sind, Fabriken stillstehen und die weltweite Schadstoffbelastung zurückgeht, während wir von Fledermäusen und Schuppentieren hören, über die das Virus in den Menschen gelangt sei, hast Du — zahnlos — zu schmatzen begonnen. Weil Dir Deine Mutter in einem Buch gemalte Tiere zeigt und Dir die entsprechenden Laute vormacht, besonders jene der Löwin, hast Du zu fauchen begonnen. Wenig erheitert uns in diesen Tagen so sehr wie dieses Fauchen. Deine Mutter krabbelt Dir auch auf dem Boden vor; aber das hat noch keine ähnlichen Auswirkungen gezeitigt wie ihr Vorfauchen. Als wir vor wenigen Tagen vor dem verschlossenen Eingang eines Lokals in der Sonne standen, kam ein junges Pärchen an uns vorbei. Du fauchtest. Ein Drache, sagte die junge Frau. Löwin, sagte ich. Tut mir leid, sagte sie.
    Der größte Dank aber gilt Deinem engelsgleichen Schlaf. Wir legen Dich kurz nach sieben Uhr abends ins Bett, Du schläfst schnell ein, und wenn wir Dich um Mitternacht zur Fütterung in unser Bett legen, beneide ich Dich darum, gleichzeitig fast zu schlafen und zu trinken und mit dem Schnuller zu spielen: traumwandlerisch. Nach zweihundert Millilitern Milch bekommst Du Deinen Schnuller. Dann lallst Du wie eine Betrunkene, lässt den Schnuller nonchalant im Mund kreisen, und wenn Du aufwachst, weil wir Unsinn mit Dir treiben wollen, bietest Du uns bisweilen Deinen Schnuller an. Dann fauchst Du. Es klingt, zugegeben, wie ein Drache. Der Drache schläft bis sieben. Danke!

    Clemens Berger
     

    Susanne Scholl, Wien


    Selbstgespräche

    In Ermangelung besserer Gesprächspartner rede ich in letzter Zeit öfter mit mir selbst. Wobei ich sagen muss, dass ich meistens nicht einer Meinung mit mir bin.
    Zum Beispiel, was diesen Text betrifft, mit dem ich mich seit Beginn der Selbstisolation herumplage.
    Ich finde, er ist gar nicht schlecht und dient vielleicht wirklich dazu, die Menschen zum diskutieren anzuregen. Ich wiederum bin der Meinung, dass das alles keinen interessiert und sich die Frage stellt, wozu ich das überhaupt schreibe.
    Aber es gibt natürlich auch andere tiefschürfende Auseinandersetzungen. Zum Beispiel über die Frage, ob wir alle etwas aus dieser völlig unerwartet über uns hereingebrochenen Ausnahmesituation lernen werden. Ich bin ja skeptisch und fürchte, die Menschen sind eher bereit, sich an Einschränkungen und die Aushöhlung der Demokratie zu gewöhnen, als ihr bequemes Leben vielleicht ein bisschen umzugestalten. Ich andererseits meine, so blöd kann die Menschheit dann doch wohl nicht sein.
    Kann sie wohl, werfe ich ein.
    Nein, da siehst du zu schwarz. Ich glaube, dass die große Solidarität, die jetzt allseits zu beobachten ist, in den Menschen tatsächlich etwas bewegt.
    Ja? Gut, man geht für die Nachbarn einkaufen und hie und da klatscht auch wer um 18 Uhr brav aus dem offenen Fenster (meine Nachbarn und ich zum Beispiel), aber mehr sehe ich da nicht...
    Das ist falsch, sag ich zu mir. Überleg doch einmal, wie viele Freunde aus Nah und Fern dich anrufen, seit du alleine zu Hause sitzt...
    Ja, antworte ich mir, aber die sind mich auch schon besuchen gekommen, als ich mit gebrochenem Knöchel acht Wochen zu Hause gesessen bin. Das sind eben meine Freunde, aber doch nicht die Mehrheit der Menschen. Die Mehrheit findet es womöglich toll, dass in Ungarn jetzt ganz einfach ein autoritäres Regime Einzug gehalten hat und dass man die Flüchtlinge in Griechenland und auf dem Balkan verkommen lässt... Die wird sich nicht aufregen, wenn die Einschränkungen nach Corona einfach weiter bestehen bleiben...
    Du darfst nicht so negativ denken, es geschehen manchmal auch Wunder, und denk nur an die Jungen, die zum Beispiel für den Klimawandel auf die Straße gehen – oder war das dagegen?
    Siehst du, sag ich, du weißt nicht einmal wofür oder wogegen die Leute sind. Und was sagst du zu denen, die meinen, das ist eh alles übertrieben?
    Darüber will ich jetzt nicht diskutieren, beende ich das unerfreuliche Gespräch und geh in die Küche.
    Kochen ist immer gut – und da red‘ ich mir auch nie drein.

    Susanne Scholl

    5. April 2020

    Tina Pruschmann, Leipzig


    Tiefe Töne

    „Jahrzehnte wird das dauern“, sagt eine Patientin. Sie hält eine Tube mit blauer Acrylfarbe in der einen Hand und einen bauschigen Pinsel in der anderen. Auf dem Tisch vor ihr steht ein Elefant aus Pappe. „Oder länger“, ergänzt sie. Die Frau, die den Pappelefanten bemalt, ist neu in der psychosomatischen Klinik. Ich bin es auch. Seit einigen Wochen habe ich einen Minijob als Ergotherapeutin. Den Beruf habe ich einmal gelernt. Mehr als zwanzig Jahre ist das her. Wie ich zu diesem unerwarteten Job gekommen bin, hat mit einer Reihung an Zufällen zu tun. Ihnen verdanke ich, dass ich jetzt – ein paar Kontaktsperren später – noch Geld verdiene, während fast alle anderen Projekte verschoben sind. Auf später. Nach der Krise. Bereits zwei Wochen, nachdem Schulen, Restaurants, Cafés, Läden schließen mussten, bin ich mir auf dem Weg zur Arbeit nicht mehr sicher, wie die Straße zuvor aussah. Standen Kinder mit Ranzen an den Haltestellen oder Menschen mit Einkauftüten oder war einfach nur die Autoschlange an der Ampel länger? In der Tasche trage ich ein Papier, auf dem steht, dass ich als Therapeutin unabkömmlich bin. Das Etikett „unabkömmlich“ verschafft mir einen zusätzlichen zwingenden Grund, die Wohnung verlassen zu dürfen. „Jahrzehnte wird das dauern“, wiederholt die Frau und ein anderer Patient nickt. „Oder länger.“ Ihr Pappelefant hat inzwischen blaue Füße bekommen. Es ist nicht das Virus, das die Patienten fürchten, es ist die Wirtschaftskrise. Die Stichworte heißen: Abschwung, Insolvenz, Kurzarbeit Null. In der Ergotherapie zwischen den Pappelefanten, Specksteinen, Pastellkreiden, Acrylfarben kennt jeder wen, der betroffen ist. Ich fürchte mich auch. In einer Zeitung lese ich einen Artikel. Es geht um die Welt nach Corona. Die Welt, wie wir sie kennen, werde sich auflösen, eine neue füge sich bereits zusammen, sagt Matthias Horx, der sich als Visionär bezeichnet. Er skizziert eine Nach-Corona-Welt, in der gute Nachbarn und ein Gemüsegarten wichtiger seien als Besitz, die regionale Produktion den globalen Welthandel herunterdampfe, das Handwerk einen neuen Boom erlebe. Da sind sie wieder, Helmut Kohls blühende Landschaften, denke ich. Der visionäre Mensch spricht von neuen Möglichkeitsräumen. Am Ende eines langen Corona-Tages liest es sich wie eine schöne Gute-Nacht-Geschichte für Erwachsene. Die Menschen im Möglichkeitsraum der psychosomatischen Klinik wollen auch eine Chance in ihrer Krise sehen, wieder zurückfinden ins Leben, vielleicht etwas Neues beginnen. Besser gelingt das ohne Virus, ohne Kurzarbeit Null, ohne Kontaktsperren, eher noch mit einem blauen Elefanten aus Pappe. Elefanten, so heißt es, hören mit den Füßen. Sie haben ein Sensorium für Töne, die aus der Tiefe kommen. Ihre Unruhe warnt vor dem Tsunami, bevor die Erde bebt. Wenn der Elefant rennt, sollst du auch rennen. – „Jahrzehnte wird das dauern. Oder länger.“ Der Ton dieses Satzes kommt auch aus einer Tiefe, aus einer biographischen Tiefe.
    Damals vor dreißig Jahren, im Nachrevolutionsjahr 1990, wurde die Treuhandanstalt gegründet. Sie hatte die Aufgabe, die volkseigenen DDR-Betriebe zu privatisieren. Als die Privatisierer vier Jahre später ihre Bilanzen vorlegten, waren im Osten der Republik 2,5 Millionen Arbeitsplätze weg, abgewickelt. Glück hatte, wen es nicht traf, aber jeder kannte wen. Der kürzeste Ossiwitz damals: Treffen sich zwei Ossis auf Arbeit. Hinter dem Witz lauerte die Angst, und die Angst war nie ganz verschwunden. In Sätzen wie „Jahrzehnte wird das dauern“ kehrt sie nun wieder. Gegen die Angst empfiehlt der Visionär den richtigen Future Mind, eine Vision, die uns aus der blühenden Landschaft der Zukunft auf die Pandemie, die Kontaktsperren, die Kurzarbeit Null schauen lässt. Er verspricht, es verschwinde die Angst und nach der Angst komme der Tatendrang. Das klingt gut. Tatendrang werden wir brauchen, denn die blühende Landschaft, eine Ökonomie, die Ressourcen schont und Gemeinwohl mehrt, braucht zu allererst politische Mehrheiten (und keine Viruspandemie, da irrt der Visionär). Unabkömmlich ist außerdem ein Elefant mit seinem feinen Sensorium für die tiefen Töne, vielleicht ist er ja blau und aus Pappe, und von mir aus hin und wieder eine schöne Gute-Nacht-Geschichte. Kann ja nicht schaden.

    Tina Pruschmann
     

    Judith Brandner, Königstetten


    Freund Ogino darf seine 98jährige Mutter nicht mehr besuchen. Er gibt bei der Rezeption des Altersheimes eine Portion Eiscreme für sie ab. Sie lebt auf der Demenzstation. Ihren Sohn erkennt sie schon lange nicht mehr. Ihre Leidenschaft für Eiscreme ist geblieben. Ogino ist nach Kyoto gekommen, um im Krankenhaus nach einer Knieoperation die Schrauben herausnehmen zu lassen. Ansonsten lebt er in Thailand. Jetzt aber hat Thailand die Grenzen dichtgemacht und lässt ihn nicht mehr zurückreisen. Sho ga nai, sagt er schicksalsergeben. Da kann man nichts machen.
    Ein Farbholzschnitt von Tsukioka Yoshitoshi aus dem Jahr 1891 zeigt einen Mann, der seine alte Mutter auf dem Rücken einen Berg hinaufträgt. Es ist der Berg obasuteyama in der Präfektur Nagano, übersetzt „der Berg, auf dem die alte Oma weggeworfen wird“. Obasuteru, also die Oma entsorgen, bezeichnet den Brauch, die eigene Mutter auf den Berg zu tragen, dort auszusetzen und sie dem Hungertod zu überlassen, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht hat. Es ist eine alte japanische Legende, die in mehreren Varianten und immer wieder neu erzählt wird. Eine davon ist die Geschichte, dass die alte Mutter, während der Sohn sie auf dem Rücken hinaufträgt, die überhängenden Äste der Bäume erhascht und abknickt. Als sie oben angelangt sind, fragt der Sohn, warum sie das gemacht hat. „Damit du dich beim Zurückgehen nicht verirrst, mein Sohn!“, antwortet die Mutter. Da weinte er bitterlich und nahm sie wieder mit hinunter.
    Im Elsass, so hört man in diesen Tagen, werden Patient*innen in Krankenhäusern oder Pflegeheimen ab einem gewissen Alter nicht mehr beatmet. Sie bekommen eine Überdosis Schmerz- oder Schlafmittel.

    Judith Brandner

    4. April 2020

    Klaus Oppitz, Wien


    DIE ZEIT DES KNOBLAUCHS

    Aus einer Tageszeitung lächelt mir ein Mann entgegen. Sein Blick demonstriert grenzenloses Glück. Der Mann ist leicht übergewichtig, um die fünfzig Jahre alt, mit einem blauen T-Shirt bekleidet. Das Foto muss an einem jener warmen Tage entstanden sein, die immer wieder die Kältewelle unterbrechen.
    Die linke Hand des Mannes schmiegt sich an einen Zopf Knoblauch. Er hat den Knoblauch sichtlich gern. Sein Knoblauch macht ihn glücklich. Er ist Knoblauchbauer. Vermutlich ist sein Glück auch mit einer Prise Erleichterung durchsetzt. In der Unterzeile bedankt er sich bei einer Handelskette. Sein Betrieb gedeihe weiter, selbst in der Corona-Krise. Dank der Handelskette.
    Er strahlt. Strahlt so sehr, überstrahlt so sehr alles, dass ich erst spät die Frau neben dem Knoblauch bemerke. Dünn in einer weißen Bluse, die überall Falten wirft, wo mehr Frau sein sollte, ihr Gesicht gegen die roten Backen des Mannes geisterblass, die brünetten Haare nach hinten in einem Zopf versteckt. Die Frau des Mannes. Links unten im Bild blitzt seine Hand hervor, die er, den Arm hinter den Rücken der Frau gefädelt, in der Nähe ihrer Hüfte positioniert hat. Die Hand schwebt über der Hüfte, der Mann berührt sie nicht. Er berührt alleine seinen Knoblauch. Auch die Frau lächelt, aber ihr Blick wirkt verkrampft, die Augen zu Schlitzen zusammengezogen. Ihre rechte Hand abgewinkelt auf den oberen Teil des Knoblauch-Zopfs gelegt, als würde sie ihn von sich wegstoßen wollen. Den Knoblauch mitsamt dem Mann. Ihr Mund im Lächeln geöffnet. Vielleicht lächelt sie auch gar nicht, vielleicht wurde ihr Gesicht in einem Moment des Protests eingefroren, bevor sie ihn noch richtig artikulieren konnte.
    Das Foto ist Teil einer doppelseitigen Werbeanzeige der Handelskette. Trotzdem fügt sich die Werbeanzeige nahtlos ins Blattinnere der Zeitung ein. Wie Knoblauch in einen Vanillerostbraten.
    Wie sieht wohl ihr Leben aus? Das Leben der Frau, des Mannes, des Knoblauchs. Ich bin mir sicher, sie wohnen weit draußen, inmitten einer ländlichen Idylle, in einem schmuck renovierten Vierkanthof, nach allen Himmelsrichtungen umgeben von einer riesigen Knoblauchplantage. Wie Baumwollkönige in den amerikanischen Südstaaten. Nur mit Knoblauch.
    Kommt der Mann am Abend vom Feld, nachdem er nach den Knollen gesehen, zärtlich ihre Blätter gestreichelt, ihnen gut zugeredet, ihnen Mozart vorgespielt hat? Kann er es auch dann nicht lassen, vom Knoblauch zu schwärmen, der doch im Zentrum seines Glücks steht? Erduldet seine Frau diese Schwärmerei? Sagt nichts, seit Jahren, weil sie begreift, wie ernst es ihm ist, dass hinter dieser demonstrativen Zuneigung zum Knoblauch keinerlei Botschaft steckt. Keine Kritik. Keine Unzufriedenheit über ihre Ehe. Hat sie längst verstanden, dass es einfach so ist? Dass sie gegen seine wahre Liebe nie eine Chance haben wird. Das Leben der Frau scheint nicht groß, es passt auf dieses Foto. Nichts bleibt ausgelassen. Wären da Kinder, sie müssten ganz sicher mit aufs Bild. Adrett herausgeputzt, mit Knoblauchkränzen im Haar.
    Trotzdem muss die Corona-Krise auch dieses Leben verändert haben. Vielleicht hat sich die Frau früher an Nachmittagen mit Freundinnen getroffen und ihnen ihr Herz ausgeschüttet. Andere Frauen. Frauen, die sie verstehen. Die Frau des Kürbisbauern, die Frau des Tomatenbauern, die Frau des Gurkenkönigs. Nun kann sie bestenfalls mit ihnen telefonieren, aber das ist nicht dasselbe, wie auch das Angebot von Psychotherapeutinnen, die Behandlung ihrer Klienten per Telefon weiterzuführen, nur sehr spärlich angenommen wird.
    Die Frau muss erkennen, dass sie nun, in Zeiten des Virus, auf sich selbst zurückgeworfen ist. Dass sich ihr Alltag endgültig auf ihren Mann und seinen Knoblauch verengt hat. Sie versucht, mit ihm zu reden, aber welche Themen gibt es denn? Zur Zeit nur das eine. Das, das das Fernsehen liefert. Das Virus. Wo es sich ausbreitet. In Italien besonders schlimm. Der Mann nickt. Wohlwollend. Italien. Er mag Italien. Auch dorthin verkauft er seinen Knoblauch und der Bedarf hat trotz der Krise nicht nachgelassen. Im Kopf der Frau schwimmt das Bild eines Italieners nach oben. Er liegt zuhause in seinem Bett. Seine Haut sieht ungesund feucht aus, er leidet an Covid-19. Im Endstadium, er kann kaum noch atmen. Es gibt kein Beatmungsgerät für ihn, noch nicht einmal ein Krankenzimmer. Aber es gibt Knoblauch. Noch im Sterben klammert er sich an einen Knoblauchzopf. So ist er auch in der Quarantäne nicht alleine. Der Knoblauch spendet ihm Trost. Der Italiener lächelt, während er im trockenen Bett an sich selbst ertrinkt.
    So hat sie sich ihre Ehe nicht vorgestellt. Sie hat ihren Mann als tatkräftig kennengelernt, mit seinen kräftigen Händen, von Jahren der Knoblauchernte gestärkt, als humorvoll, wenn er jedes Gespräch auf Knoblauch lenken konnte. Was sie anfangs für Spaß hielt, steckt in Wahrheit tief in ihm drinnen, ist Baustein seines Seins. Seine DNA-Kette ist ein Knoblauchzopf.
    Die Warnung kam bei ihrer Hochzeitsfeier, in der alkoholgeschwängerten Rede seines Trauzeugen, eines alten Schulfreundes. Eigentlich gäbe es über den Bräutigam nur eines zu sagen. Dass er endlich jemanden gefunden hätte, der seine Leidenschaft teilt. Lachen im Saal. Und zum ersten Mal ihr irritiertes Lächeln. Ihre verengten Augen. Weil sie es nicht verstanden hatte. Nicht verstanden hatte, was diese Leidenschaft war, die sie doch verstehen sollte. Was wusste sie nicht über ihn? Es brauchte noch Wochen, bis sie Gewissheit hatte, dass es tatsächlich um den Knoblauch ging.
    Nicht einmal jetzt, in der Isolation, will sie etwas sagen. Sie würde ihn nur ratlos machen. Hilflos. Elend. Und was sollte er denn tun? Er könnte sie ja nicht einmal mehr ins Gasthaus ausführen, nicht ins Kino, nirgendwohin, wo doch alles geschlossen hat und es überall heißt, man solle das Haus am besten gar nicht mehr verlassen.
    Wenn er schon in der Früh aufs Feld geht, obwohl er dort eigentlich nicht allzu viel zu tun haben kann, solange die Knollen nicht reif sind, dann sitzt sie bleich am Küchentisch und versucht, nicht zu weinen. Weil er den Tag lieber mit seinem Knoblauch verbringt. Obwohl sie gleichzeitig froh ist, ihn nicht ertragen zu müssen, vermisst sie ihn. Weil die Einsamkeit noch schlimmer ist.
    Dann kommen die Gedanken. Ob ihre Smileys, ihre Glücklichmacher, die Psychopharmaka, die ihr die Frau des Kartoffelbauern besorgt hat, in einer höheren Dosis giftig wären? Eine tödliche Menge Glück. Für sie beide. Endlich etwas, das sie gemeinsam erleben könnten. Unter dem vielen Knoblauch, mit dem er sein Essen zubereitet haben will, würde er ganz sicher nichts schmecken. Aber sie bezweifelt, dass man sich mit Smileys umbringen kann, und in diesem Haushalt gibt es auch sonst nichts, das infrage käme. Nicht einmal Pestizide. Muss er denn ausgerechnet auch noch Biobauer sein? Es bräuchte schon eine ganze Menge Haushaltsreiniger, um mehr als nur eine Übelkeit anzurichten. Das hat sie im Internet nachgelesen.
    Ich hoffe, dass es der Frau, dem Mann und dem Knoblauch gutgeht.
    Sobald diese Krise vorüber ist, werde ich als erstes in die Trafik gehen, um mir die neueste Ausgabe dieser Zeitung zu kaufen. Ich werde sie aufschlagen, in der Hoffnung ein neues Inserat der Handelskette mit einem neuen Foto des Knoblauchbauern vorzufinden. Mit seinem rotbackig umrahmten glücklichen Strahlen und einem noch größeren Knoblauchzopf. Weil da jetzt mehr Platz ist, neben ihm. Ohne seine Frau. Die sich, kaum dass die Maßnahmen der Regierung gelockert wurden, ins Auto gesetzt hat, um an den Knoblauchfeldern vorbei viele Kilometer weit in die nächste Stadt zu fahren. Sie war knapp davor, sich zu erhängen, hatte den Strick schon geknüpft. Aber sie hat durchgehalten, die Tage, die Wochen. Für diesen Moment. Für den weiten Platz, auf dem das Leben wiedererwacht, umringt von historischen Gebäuden, in deren Geschäftslokalen nach langer Zeit wieder die Lichter der Schaufenster zu leuchten beginnen. Da ist dieser Mann. Obwohl er keinen Meter entfernt von ihr sitzt, auf einem Steinquader neben dem ihren, hat sie ihn unter all den Eindrücken, die so alltäglich sind und doch so frisch, erst gar nicht bemerkt. „Wie glauben Sie, wird das jetzt?“, fragt er und kann den Blick nicht von einem Kaffeehaus lassen, in dessen Gastgarten Kellner die Stühle aufstellen. „Wird das wie früher? Wie unser altes Leben?“ Sie lächelt. Ohne dass sich ihre Augen verengen. Nein, das wird es nicht. Sicher nicht.

    Klaus Oppitz

     

    Robert Streibel, Wien


    Der Onegin vom Flötzersteig

    Was wir jetzt alles digital tun sollen, Sprachen lernen, Museen besuchen, Opernaufführungen betrachten, und dann noch klatschen und singen und das wiederum digital vorführen. Wenig von all dem tue ich, eigentlich bleibt keine Zeit dafür, oder ich will sie mir nicht nehmen. Doch den „Eugen Onegin“ habe ich gesehen, am Flötzersteig. Dort ist kein Opernhaus, dort lebt aber ein 90-jähriger Mann, der in diesen Tagen seinen Geburtstag feierte. Eine Familienfeier war nicht möglich. Die Kinder haben ihm zwei Sänger gebucht und einen Klavierspieler dazu. Alle standen im Abstand von zwei Metern und so wurde eine Arie aus dem Onegin gesungen und russische Volkslieder. Es war fast so kalt wie in Russland, wohin es den Mann durch die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts verschlagen hatte. Er liebt die russische Musik bis heute.

    Robert Streibel

    3. April 2020

    Zoran Dobrić, Wien


    Der Frühling 2020 gehört bereits unserer Zukunft an. Einer Zukunft, deren Gesichtszüge sich langsam, aber unaufhaltsam in unseren Alltag drängen und ihn prägen. Alles kommt so plötzlich, schnell und flutartig, dass man sich nur noch machtlos fühlen kann. Ja, auf den ersten Blick und nur auf den ersten Blick.
    Weder bin ich ein Verschwörungstheoretiker noch höre ich auf Verschwörungstheorien. Ich glaube, dass das Corona-Virus uns passiert ist. Niemand hat es aus einem Labor auf uns losgeschickt, um eigene Ziele zu verwirklichen und davon zu profitieren.
    Der Umgang der einzelnen Staaten mit dem Corona-Virus bezeugt allerdings die Abwesenheit jener Solidarität, die wir bis jetzt lebten und die uns zusammenhielt. Wer mehr bietet, der bekommt Respiratoren, Schutzmasken oder Corona-Tests, egal ob jemand anderer die Ware bereits bestellt und gar bezahlt hatte.
    Ich fand es erschreckend, wie unsere Medien und Politiker sich eher mit Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien anstatt mit Überlegungen zur Unterstützung und mit Hilfsangeboten beschäftigten, während in Wuhan täglich tausende von Menschen an Folgen von Covid-19 starben. 
    Wochenlang überlegten wir, warum Italien und warum die Lombardei neues Zentrum von Corona wurden, bis wir dann die Antwort serviert bekamen: Im italienischen Norden seien mindestens 10.000 Chinesen in der Textilindustrie beschäftigt, die alle mit ihren Familien, Verwandten und Nachbarn in Wuhan das chinesische Neujahrsfest gefeiert haben sollen. Während unseres Polemisierens starben Tausende von Italienern. Wir schauten buchstäblich zu, wie das dortige Gesundheitswesen zusammenbrach. Wir spotteten sogar darüber, wie „furchtbar unverantwortlich und korrupt“ die Italiener seien, wie „schlecht und billig“ das Gesundheitswesen dort. Währenddessen flog China Respiratoren, Schutzmasken, Medikamente und Ärzte nach Italien ein, um zu helfen.
    Italien hat insgesamt 5.200 Betten in Intensivstationen – wesentlich weniger, als die vielen an der schweren Lungenerkrankung leidenden Patienten dringend brauchen. Bis vor wenigen Wochen waren in Deutschland etwa 5.600 Intensivstation-Betten frei. Nur wenige an Covid-19 erkrankte Patienten aus Italien wurden bis jetzt in die anderen europäischen Länder eingeflogen. Aktuell sind über 100.000 Menschen in Italien an Corona-Virus infiziert und 13.155 an seinen Folgen gestorben.
    Nicht viele EU-Medien berichteten, dass in Bergamo die EU-Flagge durch die chinesische ersetzt wurde.
    Fast jeden Tag wird in den europäischen Medien das „Überleben der EU“ infrage gestellt. 560.000 Arbeitslose gibt es seit gestern in Österreich. Schon Hunderttausende Saisonarbeiter, wenn nicht mehr, haben die EU-Länder, in denen sie in Pflege oder Ernte arbeiten, verlassen und sind samt dem Corona-Virus zurück in ihre Heimat gereist. Wer von ihnen, wann und unter welchen Bedingungen wird wieder zurückkehren wird, steht in den Sternen.
    Lange, bevor wir vom Corona-Virus und seiner Bedrohung wussten, beschloss nicht nur die USA-Regierung gewaltige Summen an neuem Geld zu drucken, um die Kaufkraft der Bürger zu stärken und zu versuchen, die eigene Wirtschaft aus der Rezession zu retten. Jetzt müssen die Finanzmeister das bereits gedruckte Geld nicht mehr herschenken, sondern als „Hilfe“, als „Notfonds“ und bald auch als Kredite verkaufen. Wer was warum und wie viel bekommt, entscheiden weder Sie noch ich.
    Wer davon träumt, dass alle, die derzeit ihre Arbeit von Zuhause (Homeoffice) erledigen, nach der „Corona-Krise“ zurück in ihre Büros dürfen, irrt. Ich bin davon überzeugt, dass viele von uns gar nicht mehr im Büro arbeiten, sondern weiter vom „Homeoffice“ ihre Arbeit verrichten werden – selbstverständlich unter schlechteren Bedingungen. Genauso werden viele, die derzeit in die Kurzarbeit geschickt werden, nach der Corona-Krise ihren Arbeitsplatz verlieren oder nur langsam wieder vollständig beschäftigt werden. Wer auf Arbeitsrecht hofft, sollte nicht vergessen, dass man jedes Recht neu definieren und neu schreiben darf – besonderes in „prekären“ Situationen.
    Schon längst dienen unsere liebsten Smarttelefone nicht nur uns. Dass sie jetzt unserer Regierung verraten, wo wir hingehen und mit wem wir uns treffen, ist ja, „zu unserem Schutz“ - die Pandemie verbirgt viele Gefahren.

    Zoran Dobrić

     

    Georg Fraberger, Langau bei Geras


    Corona-Gedanken

    In meinen Gedanken versuche ich etwas zu finden, das mehr ist als der Alltag, der derzeit herrscht. Zu Hause bleiben kann dann eine Gefahr werden, wenn sie zum Exil des Lebens wird. So versuche ich also etwas zu denken, das mich am Leben hält. Lebendig bin ich ja trotzdem. Camus habe ich ein wenig zur Seite gelegt und durch Aristoteles ersetzt. Ein paar Gedanken zur Seele tun auch nicht schlecht. Was soll ich tun?
    Heute denke ich über alles nach. Allerdings nimmt mich die Familie so sehr in Anspruch, dass ich kaum dazu komme. Aber morgen ist der Geburtstag meines Sohnes und so stellt sich die Frage nach seinen Bedürfnissen, nach dem, was in der derzeitigen Wirtschaftslage Grundbedürfnisse sind. Der heutige Online-Einkauf jedoch hat uns auf die Idee gebracht, noch eine zusätzliche Kleinigkeit zu kaufen. Ist die Wirtschaft der Motor des Landes oder unsere Bedürfnisse? Die Frage, was jemand kostet, ist irrelevant, denn jeder Mensch kostet etwas und jeder Mensch bringt etwas. Insofern Ist die Frage nach der Wirtschaftlichkeit oder danach, wie man die Wirtschaft wieder ankurbeln kann, eigentlich die Frage, wie sich die Wirtschaft an unseren Bedürfnissen orientieren kann.
    Der erste Geburtstag, den wir wirklich in Isolation verbracht haben. Leute haben angerufen oder per Video gratuliert. Trotzdem war’s sehr harmonisch. Es ist eine Zeit, von der ich mir einerseits denke, dass sie härter ist, aber nicht weil sie unfairer ist, sondern lediglich, weil sie ehrlicher ist. Sie zeigt mir schonungslos, wie ich mir mein Leben aufgebaut habe. Und ich denke, das trifft nicht nur auf mich zu. Für jeden, der mit jemandem zusammenlebt, den er wirklich liebt, für den kann diese Zeit der Isolation eine wunderbare Zeit sein. Jeder, der einen Kompromiss eingegangen ist, lebt jetzt ein kompromissloses und schonungsloses Aufeinanderkrachen.
    Es ist den ganzen Tag etwas los und trotzdem komme ich mir sehr unproduktiv vor. Mein Tag ist nicht voll von lauter Aufgaben, die ich nicht mag, sondern gefüllt mit allem, was ich mag. Jede Beschäftigung ist mit einem Menschen verbunden und es gibt, bis auf die körperlichen Bedürfnisse, kein Muss. Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, das Leben jetzt so zu genießen. Was mir wirklich abgeht, sind Konzerte oder die Oper, die ich die vergangenen Jahre vernachlässigt habe. Vielleicht finde ich ja in meinem jetzigen Leben die Muße, irgendetwas Neues zu beginnen, ein Projekt, das mich mit Begeisterung und Leben füllt. Doch jede Beschäftigung würde mich von den Menschen, mit denen ich den ganzen Tag zusammen bin, ein klein wenig distanzieren. Dafür bin ich im Moment nicht bereit.

    Georg Fraberger

     

    Jana Beňová, Köszeg (Ungarn)


    Corona-mutierte Esel

    Der Schriftsteller Juraj Špitzer hat einmal gesagt, dass ein Intellektueller kein Problem damit hat, wenn er sich in Isolation befindet, es gibt nämlich immer etwas zu lesen, zu studieren, zu lernen. Ob dies für die Zukunft sinnvoll ist? Das ist schwer zu sagen, doch es ist an und für sich sinnvoll und beschert auf der Stelle Vergnügen.
    Ich bin jetzt zum Glück an einem Ort, wo ich nach draußen gehen kann, in den Wald, wo niemand ist und wo der Frühling mir das Gefühl gibt, dass nichts enden wird, ganz im Gegenteil – alles beginnt aufs Neue. (Ich denke, dass mich die Situation viel mehr in die Knie gezwungen hätte, wenn die Isolation im Januar begonnen wäre.) Ich habe einen guten Vorrat an Büchern um mich herum. Und die Quarantäne teile ich mit einem geliebten Wesen, mir geht es also bislang ziemlich gut. Und ich muss sagen, dass mich trotz des gefühlten Kriegszustandes, in dem sich die Welt befindet, auch etwas erfreut. Allein schon die Tatsache, dass wir wegen eines Virus zu Hause sitzen und nicht wegen irgendeiner Menschengruppe, die eine andere terrorisiert. Und dass jetzt nicht ein Teil der Gesellschaft zu Hause sitzen und aus Angst vor einem anderen Teil der Gesellschaft zittern muss. Davor, dass jemand einen selbst oder einen nahen Angehörigen zu Hause überfallen, irgendwohin entführen, vergewaltigen oder ermorden könnte. Wie in einem echten Kriegszustand. Oder in einem totalitären Regime. Ich bin froh, dass wir nicht in einem Staat leben, wo uns Politiker und Medien bewusst genau das Gegenteil von dem aufdrängen, was geschieht. Wie dies im April 1986 der Fall war, als Tschernobyl explodierte und eine Funktionärin des Gesundheitswesens im Fernsehen auftrat und allen versicherte, dass der Slowakei trotz aller bösartigen prowestlichen Informationen keine Gefährdung drohe und die Leute ruhig wieder raus und in ihre Kleingärten gehen könnten und die Kinder auf die Spielplätze, um dort Sandburgen zu bauen.
    Und ich denke, wenn wir uns danach an Corona erinnern werden, dann werden wir auch sehen, wie sich der Populismus und der Idiotismus in der Anzahl der Opfer und im Zustand des einen oder anderen Landes niedergeschlagen haben wird. Und welche führenden Personen als Corona-mutierte Esel daraus hervorgehen werden.

    Jana Beňová

     

    Gunther Neumann, Wien


    Die Länder Europas fallen in eine Art Winterschlaf im Frühling. Als wäre der Shutdown so märchenhaft. Auch sonntägliche Stimmung will bei mir nicht wirklich aufkommen. Durchhalteparolen, ja, manchmal Kriegsrhetoriken, überdecken rasch unser Nachdenken über Freiheit versus Gesundheit, ähnlich wie zuvor das Abwägen von Freiheit versus Sicherheit - und damit Überwachung. Dabei ist im Moment nur eines sicher: Unsicherheit, und das wohl noch länger. Unsere Sehnsucht nach etwas Verlässlichem wird nicht gestillt. Wir vertrauen – noch – Expertinnen und demokratisch gewählten Entscheidungsträgern. Es geht nicht um ein Maximum, sondern um ein Optimum. Aber was ist das konkret? Allumfassende Kontrolle? Monate ohne Schule, ohne Kindergarten?
    Nicht alles wird gut. Vieles wird anders. Die große Läuterung wird es wohl ebenso wenig sein wie der Untergang der Demokratie. Alles dazwischen ist Spekulation. Oder ein notwendiger, lebendiger Diskurs.

    Gunther Neumann

    2. April 2020

    Kurt Kotrschal, Scharnstein, OÖ


    Corona und die (politische) Vernunft

    Jetzt also auch noch Gesichtsmaske – trotz Vermummungsverbot. Die Maske wirkt zwar kaum gegen das Virus, wahrscheinlich soll die „Maßnahme der Woche“ aber die Leute bei der Stange halten. Weitere werden daher folgen. In der nächstwöchigen Medienaudienz wird uns die Regierung mit einer Handy-App beglücken, wetten? Tatsächlich aber führt die Politik im Moment einen heldenhaften Kampf im Sinne der Vernunft. Nicht einfach, denn Menschen sind nun mal aufgrund ihrer sozialen Natur liebend gerne irrational. Wir sollen uns einschränken wegen der doofen Kurven und Zahlen einiger Nerds? Ach was, Coronaparty!
    Warum eigentlich braucht unsere Politik ein Virus, um vernünftig zu werden? Es sei daran erinnert, dass sich genau dieselben Politiker üblicherweise gerne populistisch der Irrationalität der Leute bedienen. Eben noch diskutierten wir Kopftuch und Präventivhaft – schon vergessen?
    Und nun zeigen unsere gewählten Repräsentanten, dass sie zu einer höchst faktenorientierte Politik fähig sind, freilich in einer radikalen Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten in großzügiger Auslegung der Verfassung. Die willfährig-solidarischen Wähler und die entschlossenen Gewählten erleben jetzt, was in einer angeblich liberalen Demokratie an Machtausübung möglich ist. Gewöhnen dürfen wir uns daran nicht. Das gegenwärtige Abschmettern jeglicher Kritik und Einwände lässt allerdings ein ungutes Gefühl aufkommen. Demokratie ist das eben nicht. So ist Wachsamkeit jetzt schon angesagt. Schließlich ist der Kampf für die liberale Demokratie noch wichtiger als der gegen ein Virus.
    Ist Corona ein Türöffner für weniger Freiheit, wenn das Schlamassel vorüber ist? Das wird es erst mit einem Impfstoff sein. Bis es so weit ist, werden wir mehr oder weniger eingeschränkt und bevormundet dahinwursteln – keine gute Voraussetzung für die ebenso abstrakten wie wichtigen Werte von Verfassung und Demokratie.
    Aber wir werden wir uns danach gut daran erinnern, dass unsere Politiker dazu fähig sind, faktenbasiert zu regieren. Das immunisiert gegen Symbolpolitik und lässt echte Reformen erwarten, vor allem zur Ökologisierung von Wirtschaft und Lebensstil. Die Krise wird ein gesellschaftliches Hauen und Stechen um die knapp gewordenen Mittel auslösen; dagegen werden alle bisherigen gesellschaftlichen Verteilungskämpfe seit dem zweiten Weltkrieg Mailüfterl gewesen sein. Nicht geben darf es jedenfalls ein Zurück in die Betonvergangenheit, ein Ankurbeln der Wirtschaft ohne Rücksicht auf die Umwelt und einen Rückfall in Hilflosigkeit und irrationale Politik.      

    Kurt Kotrschal

     

    Annelies Verbeke, Gent


    After three weeks, the thought of a world full of people locked up in rooms still feels irreal. The first weekend it overwhelmed me, also in a good sense: I never had so much virtual contact with people in such a short time. We are social beings, and we are in this together, I thought, moved, and I almost felt jealous of the walnut tree in my garden, that for years of growing towards the thin magnolia, had, just now, managed to touch one of its blossoms with a little wooden finger.
    Meanwhile, I understood it's not all going to be peace and love. In Belgium, 300 refugees were put on the street, with the order to leave the country within a month. While everyone is told to stay in. While it is prohibited to leave the country. A sick joke.
    I see the importance, the 'moral duty' of optimism more clearly, but on some moments it just feels like fraud. It was like that for me before Corona, but the virus sharpened it. Today, I will not bet on the logical insights this should bring forth, on a new kind of living as a result from those insights. This not so hard to understand lesson should lead us to a different, better way to treat nature, other living beings. We should now understand that it was not a good idea to economize on care-takers, the health-care sector, and in a new way of living governments would actually care about the ones who care. An insight could be that we miss all those people working in culture when they are out of sight.
    But apart from solidarity and beauty, I have seen a lot of opportunism and an immediate sacrifice of the weakest.
    I live from day to day; this is some kind of compulsory mindfulness to us all. For myself I hope that I manage to write something good in the coming weeks. When reality feels so unreal, I find it hard to invent fiction.

    Annelies Verbeke

     

    Kaśka Bryla, Leipzig


    Kurz vor der Leipziger Buchmesse fangen für unsere Redaktion – die der Literaturzeitschrift PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb/Politisch Schreiben – die Auswahltage an, bei denen wir uns darüber einig werden müssen, welche Prosatexte in der nächsten Ausgabe erscheinen. Diesmal hatten wir 85 Einsendungen, ganz schön viel zu lesen, ganz schön viel zu besprechen. Hierfür kommt die sonst über Berlin, Leipzig und Wien verteilte Redaktion in Leipzig zusammen. So auch am 11. März. Schon da beherrscht der Corona-Virus die Gespräche zwischen den Text- und Autorin_innenbesprechungen. Die Leipziger Buchmesse wurde sehr spät, aber dann doch abgesagt. Wir denken noch: Großveranstaltung und so, scherzen ein wenig darüber. Es betrifft uns ja nicht direkt. Die Zahlen aus Italien sind zwar beunruhigend aber noch nicht alarmierend. Die EU-Außengrenzen, die Lager auf Lesbos beschäftigen uns mehr.
    Trotzdem telefoniere ich bereits täglich mit meiner Mutter, die sich in Warschau aufhält und mahne sie eindringlichst, bitte, bitte, um meinetwillen, das Haus nicht mehr zu verlassen. Meine Mutter ist 74 Jahre alt, besitzt nur noch 40 % ihrer Lungenkapazität, von den Rheuma-Medikamenten, die sie nimmt, ganz zu schweigen. Aber so, wie wir es noch nicht sehr ernst nehmen, versucht auch meine Mutter meine Bedenken und Mahnungen zu zerstreuen, bis ich schließlich Rotz- und Wasser plärre und ihr so das Versprechen abringe, zuhause zu bleiben.
    Am 13. März werde ich einer befreundeten Autorin schreiben: Zum Glück ist Polen ein paranoides Land und hat schon bei nur 16 Fällen alles abgeriegelt.
    Und sie wird zurückschreiben: Das hätten wir uns auch nie gedacht, dass du jemals folgenden Satz schreiben würdest: Zum Glück ist Polen ein paranoides Land!!!
    Am 15. März werden die Grenzen von Deutschland nach Polen zugezogen. Nur noch unter bestimmten Voraussetzungen wird man danach einreisen dürfen. Wenn man zum Beispiel einen polnischen Pass oder Perso hat. Was ich theoretisch tue, nur leider habe ich den Perso nicht bei mir, denn den habe ich bei meinem letzten Aufenthalt in Polen erneuern lassen und wollte ihn zu Ostern abholen. Ich müsste also jetzt sofort fahren, das wäre am unkompliziertesten. Dann müsste ich allerdings für vierzehn Tage in Quarantäne, nämlich bei meiner Mutter und sollte ich tatsächlich den Virus haben... Das wäre denkbar ungünstig und noch sind Tests große Mangelware. Ich entscheide nicht zu fahren.
    Am Samstag, den 14. März, reisen unsere beiden Redaktionsmitglieder Eva und Josh verfrüht zurück nach Wien. Aus Angst, womöglich in der kommenden Woche nicht mehr so leicht nach Österreich einreisen zu dürfen. Ich überlege mitzukommen. Für Österreich habe ich immerhin einen gültigen Pass. Dort wohne ich alleine und könnte alleine in Quarantäne. Aber zwischen Österreich und Polen liegt Tschechien und wer weiß, ob Durchreisen noch erlaubt sein wird. Es gibt keine Zeit, alle Eventualitäten gut abzuwägen, um dann die richtige Entscheidung zu treffen.
    Ich bleibe in Leipzig, in dem Kollektiv, in dem ich wohne. Letztlich. Wenn ich krank werde, ist es auch egal, ob hier oder dort. Um zu helfen, ist es auch egal, wo ich gerade bin. Und sollte meine Mutter krank werden, dann komme ich zumindest wahrscheinlicher nach Polen. Hoffentlich.

    Kaśka Bryla

    1. April 2020

    Peter Rosei, Wien


    Auf einem Schiff, das in Schwierigkeiten gerät, hieß es früher: Frauen und Kinder zuerst! Je länger die gegenwärtige Krise andauert, desto deutlicher wird mir, dass mir die Aussicht auf eine glückliche Zukunft für unsere Jugend mehr bedeutet als mein eigenes Leben. Ich bin bald 74 Jahre alt, bei guter Gesundheit, und ich lebe gern. In keiner Hinsicht habe ich mich zu beklagen. Hätte ich aber die Jahre, die mir noch bleiben, abzuwägen gegen die Zukunft der jungen Leute, ohne Zweifel würde ich Letzterer den Vorzug geben.
    Obiges schrieb ich vor zwei Tagen. Mittlerweile bin ich positiv auf Corona getestet. Die typischen Antikörper fanden sich. Als ich vor zweieinhalb Wochen 41 Grad Fieber hatte, wimmelte man mich bei der Hotline ab - wahrscheinlich hatte man keine Tests zur Verfügung - man riet mir, den Notarzt zu rufen. Es ging auch ohne. Sonst wäre ich wohl im Spital gelandet und damit in der - lausig ungenauen - Statistik.

    Peter Rosei

     

    Robert Streibel, Wien


    Die Drohnen sollen fliegen

    Heute ist der 1. April. Jedes Jahr überlege ich lange, welche Meldung ich in diesem Jahr absetzen werde. 
    Innenministerium bestellt 2000 Drohnen in der VHS Hietzing
    Ökologische Überwachung auf Straßen und Bars.
    Das Bienenkompetenzzentrum der VHS Hietzing freut sich über einen besonderen Auftrag. Vor wenigen Tagen bekam Thomas Hager, der Imker, der unter anderem auch die Bienenstöcke auf dem Dach der VHS Hietzing betreut, einen Anruf aus dem Innenministerium.
    Da bei Einsetzen des Frühlingswetters die Überwachung der Ausgangsregeln durch die Polizei nicht mehr in dem Ausmaß gewährleistet werden kann, möchte das Ministerium alle Maßnahmen ausschöpfen. Da Ökologie und Effizienz ganz großgeschrieben werden, sollen nun Drohnen eingesetzt werden.
    Der Vorteil dieser Überwachungs-Bienen ist, dass sie flexibel auf der Straße wie auch in Gebäuden und Gasthäusern und Bars einsetzbar sind. Selbst in Innenhöfe können sie pfuschenden Friseuren folgen. Auf der Unterseite sind die Drohnen mit einer Minikamera ausgestattet, die akzeptable Fotos in Livequalität liefert.
    Ob der erste Einsatz in Hietzing am 1. April erfolgen kann ist, noch nicht entschieden, da bisher noch nicht geklärt werden konnte, ob die Drohnen auch offiziell angelobt werden müssen.  Der Bundespräsident übt zurzeit den entsprechenden Schwänzeltanz, der dann mit Videoschaltung auf das Dach der VHS übertragen wird.
    „Wir sind in den Startlöchern“, meint Thomas Hager mit seinen 2000 Drohnen, die in Kürze in Aktion treten werden. Dass diese Drohnen-Aktion für ganz Österreich in Hietzing begonnen wird, ist für den Direktor der VHS Hietzing Prof. Dr. Robert Streibel eine Selbstverständlichkeit. „Die ersten Fälle der Spanischen Grippe im Juli 1918 wurden in Hietzing registriert, wie die Zeitungen damals berichtet haben. Daher haben wir eine historische Verpflichtung.“

    Robert Streibel

     

    Cordula Simon, Edenkoben, dann Graz


    Geist und Geister

    Als in Österreich die ersten Maßnahmen beschlossen wurde, war ich gerade im Künstlerhaus Edenkoben an der südlichen Weinstraße in Rheinland-Pfalz untergebracht. An sich ein großartiger Ort für Isolation – zwar gab es bis zur Absage aller Konzerte und Lesungen im Künstlerhaus noch viele Kulturveranstaltungen für das vergleichsweise kleine Städtchen, aber davon abgesehen sitzt man doch allein zwischen Weinbergen. Meine Abreise hätte Mitte April stattfinden sollen und sobald im März besseres Wetter sein würde, könnte ich am Vormittag schreiben und nachmittags auf eine Burg klettern oder wandern gehen. Alleine vom Künstlerhaus sind fünf Burgen leicht zu Fuß erreichbar. Dass die Gaststätten, die sich hinter ausnahmslos jedem Steinhaufen verbergen, nun geschlossen sein würden, kratzte mich recht wenig. Ohne etwas zu essen einzupacken, geht man ohnehin nirgendwohin, wie meine Mama immer so schön sagt, und an Wein, den man gemütlich nach dem Wandertag in der Badewanne trinken konnte, würde es auch nicht mangeln. Ich hatte bei schlechtem Wetter so viel vorausgearbeitet, die Verschanzung im Künstlerhaus hatte sich als unglaublich produktiv herausgestellt, so dass ich mit allen Projekten trotz einkalkulierter Wandertage zum Ende gelangen könnte. Das war der Plan, viel ändern würde sich nicht, auch wenn die Befürchtung durch die Wohnung spukte, dass ich vielleicht dort festhängen könnte, die Rückreise durch neue Regelungen verunmöglicht werden könnte, war das nicht der schlimmstmögliche Fall – in sonnigen Weinbergen festsitzen, ja, buhuhuh, wer da jammert, hat keinen Realitätssinn.
    Auch meine Lesung in Edenkoben hatte bereits stattgefunden, bis zu meiner Rückkehr würde ich also nichts verpassen. Gemütlich war es, das Wetter wurde besser, und drei Tage lang konnte man die Weltuntergangsstimmung nur in den Gesprächen mit anderen Bewohnern des Hauses spüren. Wir konnten uns wie Beobachter der Weltlage fühlen. Für Autoren ist zu Hause zu sitzen ohnehin der normale Modus operandi, also sahen wir nur einander, grübelten über die Ursuppe voller Viren und Bakterien da draußen, während wir beschaulich auf das langsame Vorüberziehen der Sterne und das schnelle Blinken der Windränder blickten.
    Dass in Österreich die Beschlüsse früher kamen, machte aus dieser privilegierten Außenperspektive keinen Unterschied mehr. Worüber sollte ich also auf diesem Blog schreiben? Wozu auch? Die, die jetzt über die Isolation schreiben, waren vorher schon ziemlich solide in ihren Kokons eingesponnen, und wem das Kaffeehaus abgeht, der hat auch nur ein Luxusproblem. Bei Hilfspaketen fällt man als Autorin sowieso aus dem Raster, weil künstlerischer Verdienst stark fluktuiert, und im letzten Jahr kaum etwas verdient zu haben, bedeutet, selbst wenn man in dieser Saison ein erfolgreiches Buch gehabt hätte, dass diese Gelder niemals ersetzt würden, egal wieviel Zeit zu lesen andere nun hätten. Also: Für viele von uns ist alles wie immer. Finanziell sicher suboptimal, aber hey, Edenkoben: Ich könnte jeden Tag ein Weinetikett fotografieren und den Wein besprechen – das wäre vielleicht nicht ganz so sinnvoll, aber wer weiß, was meine Leber noch gesagt hätte, aber das ist eben die entsprechende Gegend, man muss mit dem arbeiten, was man bekommt – when life gives you lemons make limoncello. In Zeiten der Krise tun die Edenkobener ohnehin das einzig Vernünftige: Sie listen auf der offiziellen städtischen Homepage auf, welche Winzer innerhalb von Edenkoben nach Hause liefern. Prost!
    Drei Tage hielten das wundervolle Wetter, der Arbeitseifer und die Weinliebe an. Dann wurden wir rausgeworfen:
    Rheinland-Pfalz erteilte die Weisung, sämtliche Bildungseinrichtungen zu schließen. Zu denen gehört auch das Künstlerhaus, und auch wenn die Künstler alle brav in ihren eigenen Badewannen vor sich hingluckerten und ihr eigenes Textsüppchen kochten, bedeutete das für uns: In zwei Tagen seid ihr raus. Völlig orientierungslos – der Wein! - begannen wir also innerhalb von zwei Tagen, alle unnötig zusammengehamsterten – nun ja, so viel war es nicht, aber ein gewöhnlicher Wocheneinkauf am Vortag der Hiobsbotschaft zwang uns, einiges zurückzulassen – Produkte einzupacken oder auszutrinken. Der Wein! Passend zum exzellenten Wein gab es auch noch: Drama. Viel zu viel Drama: Einer der Insassen hatte seine Berliner Wohnung noch für Monate untervermietet. Wohin mit sich? Und mit dem Wein? Wohin sollte jene gehen, die einfach zu ihrem Freund hätte fahren können, der jedoch gerade informiert wurde, dass er Kontakt mit einer Infizierten gehabt hatte. Wie sich das schon anhört: eine Infizierte. Wie bringt man eine Packung Klopapier, die man noch im Künstlerhaus hat, quer durch eine deutsche Großstadt ohne überfallen zu werden? Und der Wein! Während ich kopflos - der Wein! - ein neues Ticket kaufte, dekadent, dekadent in der ersten Klasse, die erstaunlicherweise nur zwei Euro mehr kostete als das gewöhnliche Ticket, habe ich mit den Kollegen mitgefiebert, mitgezittert, und hätte ich auch nur einmal gehustet, hätte man mich vermutlich in Quarantäne gesteckt. All die Aufregung, bis sich herausstellte, dass das Klopapier noch in die Tasche passt, der Freund doch kein Corona hat und in Edenkoben die Finanzschüler ausgeflogen sind und daher plötzlich günstige Wohnungen frei wurden – das hatte doch noch etwas harmlos Abenteuerliches. Ich dagegen hatte es einfach: Graz ist meine Homebase, in Graz kann ich immer noch irgendwohin, und auch mein Kämmerchen hatte ich niemandem untervermietet, dazu wäre ich ohnehin nicht lange genug weg gewesen. Ich würde einfach nach Graz fahren und musste nur kurz in Neustadt und Hildesheim umsteigen und dann etwa zehn Stunden ohne weitere Unterbrechungen am gleichen Sitz hin und herrutschen, während mein Kopf sich endlich durch die Geschehnisse arbeiten könnte, ein bisschen defragmentieren, und ich würde spätnachts wieder in mein eigenes Bett fallen.
    Mein Kopf hat aber nichts dergleichen getan und nein, der Wein war das nicht, sondern der Grusel: Die Bahnsteige waren leer. So leer, dass ich mir selbst schon “Langsam find der Tåg sei End” vorzusingen begann, es kann mich eh niemand hören, ist ja völlig egal, wie falsch ich singe. Auf meinem Erste-Klasse-Sitz angekommen, war auch schnell klar, dass es genaugenommen mein Erste-Klasse-Wagon war und dass das Platzservice ohnehin eingestellt worden war. Kein Problem, denn ohne etwas zu essen dabeizuhaben, fährt man eh nirgendwo hin, wie meine Mama so schön sagt. Natürlich habe ich To-Do-Listen geschrieben, ein paar Linguistik-Vorlesungen auf meinem mp3-Player gehört. Immer dunkler wird es im Zug. Ich habe schon sämtliche Lichter meines Abteils eingeschaltet und die Schalter gleich desinfiziert, man muss ja auch an andere denken. Einmal geht ernsten Blickes ein Mann mit Warnweste, Gummihandschuhen und Müllsack vorbei. Ebenso ernst schaut er durch die Abteilscheibe, blickt mich an, blickt auf den Müllsack, blickt wieder mich an, ich schüttle artig den Kopf, nein, kein Müll, und er geht mit Begräbnisblick weiter und verschwindet im dunklen Flur. Bei der Grenzkontrolle in Salzburg stehen wir ein Weilchen, doch war diese Zeit bei der Buchung wohl schon einberechnet worden, denn Verspätung haben wir keine. München, Salzburg, Bischofshofen – die Bahnhöfe sind überall gleichermaßen leergefegt. Ich warte, dass ein Busch vorbeirollt, wie im Wildwestfilm, oder dass die Zombies plötzlich die Rolltreppe hinunterstürmen wie in „Train to Busan“. Ich werde nicht kontrolliert. Ich habe meine Fahrkarte online gekauft, die wissen eh, wer in diesem Wagon sitzt, die wissen ja, dass ich heimfahre, denn die Staatsbürgerschaft muss bei der Buchung auch angegeben werden. Ich nenne alles nur mehr: meins: Mein Abteil, mein Wagon, meine zwei Zugklos, mein maschinelles Fahrtgeräusch, meine Dunkelheit, meine Monotonie. Ich habe die Befürchtung, dass ganz Österreich jetzt ein Geisterstaat ist, als fürchteten wir plötzlich alle, aus heiterem Himmel vom Blitz getroffen zu werden. Als ich mich in Graz endlich mitsamt aller Taschen – der Wein! - aus dem Wagon hieve, höre ich eine Bahnangestellte lachen. Mit dem Rucksack plumpst mir ein Stein vom Herzen: Gespenster sind hier nicht.

    Cordula Simon

    31. März 2020

    Klaus Oppitz, Wien


    KOSTE ES, WAS ES WOLLE

    Verschwörungstheroretiker, bitte weitergehen. Es gibt hier nichts zu sehen!
    Das Corona-Virus, auch bekannt als Covid-19, auch bekannt als Erreger SARS-CoV-2 ist keine Erfindung. Die bloße Idee, Staaten weltweit, Diktaturen ebenso wie Demokratien, die schon im Normalbetrieb Jahre brauchen, um beispielsweise Handelsabkommen zu schließen, hätten sich faktisch über Nacht zusammengeschlossen, um ihre Bürger hinters Licht zu führen, ist völliger Irrsinn.
    Ich gehe sogar halboptimistisch davon aus, dass sich kein Staatsmann nachsagen lassen will, vorsätzlich seine Wähler dahingerafft zu haben. Die allerdings ein eher kurzes Gedächtnis haben und oft nicht realisieren, dass diejenigen, die nun - koste es, was es wolle - Notfallmaßnahmen verordnen, mitunter dieselben sind, die in den Jahren zuvor das Gesundheitssystem zusammengespart haben, das sie nun zu retten versuchen.
    Wie auch immer, das Virus ist gefährlich, und was der Bevölkerung jetzt verordnet wird, geschieht zunächst einmal nach bestem Wissen und Gewissen. Haben Sie die Falle bemerkt? Zunächst.
    Hier eine Aufzählung der Grundrechte, die seit 16. März in Österreich direkt oder indirekt eingeschränkt oder sogar völlig ausgehebelt wurden:

    - Das Recht auf persönliche Freiheit
    - Das Recht auf Aufenthaltsfreiheit und freie Wahl des Wohnsitzes
    - Das Recht auf Versammlungsfreiheit
    - Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
    - Das Recht auf Kunstfreiheit
    - Das Recht auf Freiheit der Berufswahl und Berufsausbildung
    - Das Recht auf Erwerbsfreiheit

    Darauf hinzuweisen, ist im Moment nicht rasend populär. Die Angst überschattet alles und je größer sie wird, desto größer wird auch der Wunsch nach einfachen Lösungen. Nach Helden, die das übermächtige Problem aus der Welt schaffen. Koste es, was es wolle.
    Genau das darf es aber nicht, alles kosten. Grundrechte und Menschenrechte sind das Fundament einer funktionierenden Demokratie. Darauf gilt es, acht zu geben. Koste es, was es wolle.
    Politiker aller Fraktionen haben in diesen Tagen nämlich etwas Wesentliches gelernt: Wie weit eine Gesellschaft zur Selbstaufgabe bereit ist, sofern die Bedrohung stark genug ist. Auch wenn derzeit vieles nach bestem Wissen und Gewissen geschieht, kann die Verlockung nur gewaltig sein, diese Erkenntnis auch nach der Corona-Krise zu nutzen.

    Klaus Oppitz

     

    Ursel Nendzig, Wien


    Gerade bekomme ich deutlich vor Augen geführt, dass sich mein Job ganz an der Spitze der Bedürfnispyramide abarbeitet. Niemand braucht Schön-Schreiben, wenn er Angst um sein Leben haben muss, um seine Sicherheit besorgt ist, keine Sozialkontakte haben, noch nicht einmal in ein Kaffeehaus gehen darf. Schönen Gruß von Herrn Maslow: du und deine Arbeit, ihr befriedigt kein Grundbedürfnis.
    Dabei ist mein Beruf sonst durchaus anerkannt. Auf Partys, in Mütterrunden, im Freundeskreis - Autorin zu sein war bisher mit das Interessanteste an mir. Ich denke nicht, dass das bei einer hart arbeitenden Altenpflegerin ähnlich gelagert ist. War, meine ich. Weil: Jetzt hat sich die Pyramide auf die Spitze gestellt. Eh zurecht.
    Die Sache hat aber noch eine andere Seite und die geht so: Die Kraft, die in den Worten steckt, war noch nie so deutlich wie jetzt.
    Schreckliche Kraft, wie etwa im Wort „Großlazarett“ das uns die schirchsten der schirchen Bilder heraufbeschwört. Manipulierende Kraft, wenn Gerüchte verbreitet werden von Plünderungen und Ausgangssperren und Inhaftierungen, die gar nicht stimmen, aber trotzdem: über die Worte haben sie ihr Gift schon verbreitet. Beruhigende Kraft: Wenn man gut recherchierte, auf Fakten ruhende Artikel lesen kann, die einem erklären, welche Konsequenzen welches Verhalten nach sich zieht. Die aufmunternde Kraft, die man selber spürt, wenn man das betagte Pärchen in der Wohnung neben dem Büro anruft – ihr Telefon durch die Wand klingeln hört, man hört dieses Klingeln sonst nie – und ihnen Hilfe anbietet, weil die beiden völlig allein sind. Direkt am Telefon die beängstigend geschwollenen Worte aus einem Schreiben vom Finanzamt für sie übersetzt und ihnen, wieder mit Worten, das Gefühl vermittelt, dass jemand an sie denkt. Und dann ist da auch noch diese erhebende Kraft, die Kraft der Gedichte, der Literatur, der Songs, die uns durch diese Zeit tragen und ihre Wirkung entfalten. 
    Insofern ist es doch so: diese Pyramide, die besteht nicht aus Schichten, die sich nicht gegenseitig berühren. Es ist viel mehr eine wilde Mischung, alles hängt zusammen. Wer um sein Leben fürchtet, braucht trotzdem die Kraft der schönen Worte. Gerade der.

    Ursel Nendzig

     

    Robert Streibel, Wien


    Ich fahr auf Urlaub ins Jahr 1918

    Ich will ein bisschen Urlaub vom Hausarrest, von den täglichen Sondersendungen nehmen. Wegfahren ist nicht möglich, manche Länder werde ich so schnell nicht bereisen. Aber auch das Inland ist gefährlicher als ein Dschungel. Also wieder abtauchen in die Geschichte, das hilft, denke ich. Aber diesmal Geschichte ohne Ansteckungsgefahr: die Spanische Grippe 1918. Alles überstanden. 25 Millionen Tote, keinen davon kenne ich. Das beruhigt auch nicht.
    Alles war schon einmal da. Auch die Fake News. Als die ersten Berichte über die Spanische Grippe in den Wiener Zeitungen erscheinen, wird im Juni 1918 die Vermutung angestellt, dass deutsche Giftgase für die Verbreitung der Influenza in Paris ausschlaggebend seien. Der Wind.
    Ein Monat später die ersten Fälle in Wien. „Auch in Wien tritt die eigenartige Krankheit auf.“ Wo? Im 13. Bezirk werden einige Fälle berichtet. Lokalpatriotismus?
    Die Medien und die Seuche. Eine Symbiose. „Schicken Sie uns bitte Fotos, aber im Querformat.“ Nicht von Patienten, die beatmet werden, sondern von den mit einem Eispanzer überzogenen Marillenblüten, meint die Moderatorin des Wetters im ORF, als sie die dritte Eisnacht ansagt und über den Kampf dagegen berichten will. 
    Die Medienbranche verformt das Denken. Als ich mein Urlaubsziel im Jahr 1918 gewählt habe, habe ich mir noch gedacht: So viele Meldungen, wie ich in der ANNO Datenbank der Nationalbibliothek in den Zeitungen finde, so viele Infizierte in Österreich. Wenige Stunden später: Ich war enttäuscht, für diesen Gag bin ich zu spät auf „Urlaub“ gefahren. 1044 Meldungen. Das hatten wir schon vor Tagen erreicht. Heute sind es über 9000.

    Robert Streibel

     

    Katharina Pressl, Wien


    Dinge, die in minimalem Radius noch immer aufregend sind: Als ich um 18:00 vom Einkaufen heimkehre („in das Heimathaus“ würde die Regierung sagen, wenn man die Rhetorik der „Heimholung“ von österreichischen Touristen „ins Heimatland“ auf meine Routen umlegt), fährt das erste Mal auf der Straße ganz nah ein Polizeiauto vorbei, so nah, man kann fast die kaum existenten Schallwellen spüren, die sich aus den Lautsprechern vom Polizeiauto beinahe nicht verbreiten, beinahe eh nicht zu hören sind, und trotzdem versetzt mich das direkte Aufeinandertreffen mit „I am from Austria“ in helle Aufregung. Außer Ideen, welches Lied man zu dieser Zeit über offene Fenster entgegen beschallen könnte, oder Umdichtungsvorschläge fällt mir nichts ein, keine Handlungsstrategie für einen Auf-der-Straße-Encounter mit dieser Zeile, die man zurzeit einfach als exekutive Staatsgewalt nicht bringen kann. Vielleicht kann man sie bringen, aber akzeptieren kann ich es, wie auch immer das Nicht-akzeptieren geartet sein mag, nicht. Deshalb hebe ich die Hände wie ein Shrug-Emoji und schüttle den Kopf mit extrem entrüstetem Blick, so wie ich es von Fußgängern mit Hut, die am Gehsteig (österr. für wo die Fußgänger gehen) auf Radfahrerinnen treffen, gelernt habe. Pures Entsetzen über solch frevelhafte Taten ist bis auf die Fahrerseite hinüber zu sehen, so hoffe ich zumindest.
    Dinge, die mir gefallen: Wie Nähe und Zeit ineinander fallen und sich in verschiedenen Ausformungen über einen legen. Das leicht Irre, das sich daraus ergibt. Ruhe und Unruhe, die sich ausgewogen nacheinander äußern können, ohne dass ich mit Tränen in den Augen das Haus verlassen muss, um ja einen Termin einzuhalten. Dass die Zeit, in der man sich gut verstehen kann, nicht mehr kurz ist, wie die Zeit manchmal war, in der man sich gesehen hat, ohne etwas aufräumen zu müssen oder schon genug Gespräche geführt zu haben, ohne noch müde oder schon wieder müde oder am Beginn, im, oder kurz nach dem Menstruationszirkel zu sein. Und: Das Gefühl, dass wir alle gemeinsam ausgeliefert sind, ein Gefühl, das wir möglicherweise öfters haben müssten, um es weniger oft zu sein.
    Dinge außerhalb politischer und gesundheitlicher Implikationen und unter der Annahme von Privileg: Sich nicht Türschnallen in die Hände geben müssen, nicht, weil sich dort Zellen befänden, die potenziell töten, sondern, weil die Hände und Klinken glatt waren, niemand hielt sich fest, alle gingen. Es wirkte nicht, wie man geht, wenn man ein Ziel hat. Mit einem Ziel muss man nicht ständig los. Wenn man weiß, was man will, bricht man einmal auf. Es war mehr ein Auf-dem-Sprung-Sein als Prinzip. Ein erzwungenes Überspielen durch Hin- und Herrennen. Als hätte man niemals über Nacht bleiben können, nie über den Durst trinken sollen, nie schon zum Frühstücken auftauchen können, nie auf viele unbeantwortete Nachrichten hunderte Witze nachschicken dürfen, nie den Mut haben sollen, sich nach der Mittagspause aus Grippe- oder Schwermutsverdacht krankzumelden und die ganze Woche bei einer Freundin leben, der es zufällig genauso erging. Auf die glatten Türklinken trafen keine rauen Handinnenflächen, die das Abrutschen, das ständige Loslassen verhindert hätten, kein ungepflegter Finger, der eine Angel, und kein eingerissener Nagel, der ein Widerhaken hätte sein können. Und ich kein anderes Ich, das irgendwie dafür bereit gewesen wäre. Kaum ein Naher ist nun räumlich nah, doch ist der auf null gesetzte Schrittmacher irgendwie auch mein gleichmäßiger Herzschrittmacher, eine unerhoffte Beruhigung, ein überraschendes, wenn auch problembehaftetes Glück, dass sie bleiben, dass sie mir nicht fortgehen können, nicht auf die Weise, wie wir ständig mussten (und bald wieder müssen werden oder hoffentlich bald einmal wieder nicht mehr müssen unter anderen Vorzeichen).

    Katharina Pressl

    30. März 2020

    Andreas Tjernshaugen, Oslo

    Aus dem Norwegischen übersetzt von Alexander Sitzmann

    Der Alltag ist nicht wirklich alltäglich

    Homeoffice ist an und für sich etwas ganz Alltägliches für mich, wie für viele andere Autoren auch. Ungewöhnlich ist, dass das Haus voller Menschen ist. Zwei Teenager werden zu Hause unterrichtet, und meine Frau Katrine, von Beruf Journalistin, schreibt im Stehen an einem Arbeitsplatz, den sie sich in der Küche eingerichtet hat. Ein anderer außergewöhnlicher Umstand ist ein ungesundes Interesse an Nachrichten, das stark an der Konzentration zehrt. Ich bin, ehrlich gesagt, in den letzten paar Wochen kein sonderlich produktiver Autor gewesen.
    Jeden zweiten Tag arbeite ich als Redakteur für das Große Norwegische Lexikon, und jetzt sitze ich auch an diesen Tagen zu Hause. Die Lexikonarbeit besteht aus vielen kleinen Aufgaben, die nacheinander auszuführen sind, und lässt sich während der Pandemie sicherlich besser bewältigen. Sie erfordert nicht dieselbe Konzentration wie das Schreiben eines Buchs, und ein Onlinelexikon zu betreiben, ist glücklicherweise eine Arbeit, die man leicht mit nach Hause nehmen kann. Ich treffe meine Redaktionskollegen jeden Morgen auf dem Bildschirm, mithilfe von Zoom. Einige der neuen Artikel, die wir in letzter Zeit im Lexikon veröffentlicht haben: Homeoffice. Lagerkoller. Langeweile. Die Lesestatistik spricht Bände: Die Menschen lesen über die Pest, die Spanische Grippe, Beatmungsgeräte und Viren.
    Wir hier zu Hause haben Glück. Wir haben einander, wir haben ausreichend Platz, und wir haben einen eigenen Garten vor der Tür. Die Bebauungsdichte ist locker genug, als dass man auf einen Spaziergang hinauskann, ohne sich oder andere der Ansteckungsgefahr auszusetzen. Mir tun Bekannte leid, die ihre Arbeit in der Krise verlieren oder mit ungeduldigen Kleinkindern zu Hause sitzen, welche auf ihnen herumklettern, während sie zu arbeiten versuchen, und die vielleicht in engen Wohnungen leben mit Nachbarn, die die Gelegenheit nutzen, lärmende Renovierungsprojekte in Angriff zu nehmen. Und ich mache mir selbstverständlich Sorgen um die Alten und Kranken und darüber, welche politischen Schreckensszenarien die wirtschaftliche Krise mit sich bringen wird. Beim Versuch, mir nicht allzu viele Sorgen zu machen – daraus entsteht selten etwas Gutes – suche ich dort Trost, wo ich es immer tue, in der Natur. Meisen und Stieglitze trällern von den Bäumen rund um das Haus. Insekten und Blumen erwachen langsam zum Leben. Auf einer Radtour durch Wald und Wiesen sehe ich, dass die Mäusebussarde aus dem Süden zurückgekehrt sind und begonnen haben, ihre Nistplätze einzunehmen.
    Die Infektion begann sich hier in Norwegen früher auszubreiten als erwartet, ihr Ausgangspunkt waren Menschen, die die Winterferienwoche im Februar beim Skifahren in Österreich oder Italien verbracht hatten. Die Behörden waren ziemlich früh mit der Schließung von Schulen und den meisten Begegnungsstätten dran, ab 12. März. Jetzt verfolgen wir täglich die Statistiken mit und hoffen, dass die Isolation hilft. Die für Norweger typische recht reservierte Haltung und das große Vertrauen der Menschen in die Behörden und in einander haben dieser Tage wohl auch ihre Vorteile. Die Infektionsschutzmaßnahmen stoßen auf ziemlich breite Zustimmung. Aber so langsam kommt es zu Gereiztheiten, einerseits weil Entlassungen und Konkurse um sich greifen, andererseits wegen der Angst von Menschen, die Erkrankungen haben, aufgrund derer sie gefährdet sind. „Führt Ausgangssperren ein“, sagen manche. „Was, wenn die Schweden recht haben“, sagen andere. Unser nächster Nachbar verfolgt eine weniger strenge Politik als Norwegen, dort sind immer noch viele Schulen offen. Ein schwedischer Freund postet ein Foto von etwas Schönem, das er bei einem Museumsbesuch in Stockholm gesehen hat, und ich schrecke zusammen. In Oslo sind die Museen geschlossen. Soll ich „Gefällt mir“ drücken, wie ich es für gewöhnlich tue?

    Andreas Tjernshaugen

     

    O. P. Zier, St. Johann im Pongau


    Heute, am 30. März 2020, wurde von der Bundesregierung bekanntgegeben, dass demnächst für den Aufenthalt in Supermärkten Schutzmaskenpflicht bestehen wird. Wie wir wissen, geht es dabei nicht um den Selbstschutz der Masken tragenden Kunden, sondern um den Schutz der Mitmenschen, zuallererst der in den Geschäften Beschäftigten – somit versteht es sich von selbst, dass ich diese Maßnahme sehr begrüße! Genauso, wie ich für die endlich vorgenommene bessere Bezahlung all jener Menschen bin, denen nun bekanntlich applaudiert wird.
    Der Tag dieser Verlautbarung ist für mich ein guter Zeitpunkt, eine Idee kurz zu skizzieren, die mich schon seit einiger Zeit so nebenher beschäftigt, da einen bekanntlich Ideen so besiedeln wie die unsichtbaren Viren, die es nach dem großen weißrussischen Staatsvirologen Lukaschenko gar nicht gibt, weil er sie sonst ja durch die Gegend fliegen sehen würde.
    Trotzdem: Beide hat man oder man hat sie nicht, die Viren und die Ideen. Manchmal scheinen sie sich in ihrem unsichtbaren Flug sogar nahe zu kommen.
    Auch in Zeiten der Pandemie, in denen so vieles in unserem Alltagsleben völlig anders geworden ist als davor, ist eines offenbar gleichgeblieben: Der Wettstreit zwischen Satire und Realsatire!
    Gerade noch ist mir der Einfall gekommen, dass sich hinsichtlich der Schutzmasken bald eine lukrative Marktlücke auftun werde, da entdecke ich meine satirische Idee schon sehr real auf einem Foto in der Zeitung!
    Noch bevor ich dazukam, mir eine entsprechende Notiz zu machen darüber, dass wir bald Bedarf haben dürften an zünftigen Trachten-Schutzmasken – eventuell aus feinem Hirschbockleder mit schicker Edelweiß-Stickerei -, da fällt mein Blick auf ein Zeitungsfoto mit einer – Dirndl-Schutzmaske! Bildtext: „Eine Maske im Dirndl-Look“. - Meine Ledervariante dürfte vielleicht noch folgen. Und dann auch schon fix und fertig aus- und von einem (diesmal männlichen) Trachtenmodel vorgeführt.
    Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich halte diese Idee einer Schneiderwerkstatt natürlich für absolut legitim und wünsche dem Betrieb von Herzen, dass dieser Einfall, der, wie gesagt, auch schon in meinem Kopf herumgegeistert war, den einen oder anderen Arbeitsplatz sichern möge!

    O. P. Zier

     

    Gunther Neumann, Wien


    Mein Blick streift - für kaum mehr ist mit den Kindern zu Hause derzeit Muße - den Feuilletonteil der Zeitungen: Gegenwarts- und Zukunftsdeuter haben Saison. Apokalyptische Prophezeiungen sind im Moment in der Minderzahl. Das erstaunt mich fast. Corona werden wir irgendwann halbwegs überstehen. Was kommt danach? Neue Bakterien, Viren, Seuchen? Kriege um Ressourcen? Eine kaum zu bewältigende Finanzkrise? Der befürchtete Klima-Kollaps? In unserer Suche nach Schuldigen werden wir bei uns selbst fündig: Wir werden für unsere grenzen-lose Maßlosigkeit gestraft. Das erscheint mir wie eine andere Art von Selbstüberschätzung in unserem globalen, überheizten Norden - wir sind an allen Übeln dieser Welt schuldig. Unsere eurozentristische Hybris ist bemerkenswert, selbst als Vexierbild: Auch in scheinbarer Verwerflichkeit fühlen wir uns noch herausragend.
    Zwei Tage Frühling, Zuversicht, dann wieder Kühle. Negative Gedanken schleichen sich ein. Pandemie und Panik liegen im Wörterbuch nahe beieinander. Noch knapp davor rangiert Pan. Sein gekrümmter Hirtenstab symbolisiert die Natur der Dinge, ihren Kreislauf, die Wiederkehr der Jahreszeiten. Mit seiner Flöte vermittelt er Freude, an Musik und Fröhlichkeit. Seit 2012 hat die UNO den 20. März, meist Frühlingsbeginn auf der Nordhalbkugel, zum „Welttag des Glücks“ erklärt. Besonders das heurige Motto „Happiness for all, forever“ klingt wie ein - von abgehobenen Bürokraten ersonnener - Hohn. Dennoch, auf einem bescheidenen Niveau in diesem wechselhaften Frühling: das Lächeln einer hart arbeitenden Supermarkt-Kassiererin, die Freude unserer Kinder – auch ein Virus des Optimismus kann ansteckend sein. Den werden wir brauchen.

    Gunther Neumann

     

    Robert Streibel, Wien


    Ungeöffnete Briefe

    Wer jetzt keinen Hund hat oder kein Kind an der Hand, der wird sich bald rechtfertigen müssen. Die meisten Menschen dürfen nur kurz hinaus, die Bauarbeiter müssen lange hinaus. Wie sich die Bedeutung von dürfen und müssen verändern.
    Auf meinem Weg mit dem Rad in die geschlossene Volkshochschule begegne ich jeden Morgen einer Frau mit ihrem Rollator, jeden Tag wächst der Abstand zu ihrer Betreuerin. Am Abend in den Nachrichten werden die Fieberkurven gezeigt, die Zahl der Infizierten. Sinkt die Kurve? Flacht sie ab? Bei Aktienkursen würden sich manche das exponentielle Wachstum wünschen. Die Kurve entscheidet über den Hausarrest, über Arbeitsplätze, über das Leben, und weil wir Menschen sind, denken wir auch an die Oper, an den Urlaub. Wird es das alles danach noch geben? Und wann?
    Damit wir nicht vereinsamen, gibt es viele Lösungen, so viele Angebote, dass ich fast Fieber bekomme. Was ich jetzt alles sehen und besuchen sollte und dann auch noch klatschen und musizieren. Ich packe mein Leben und meine Projekte in Schachteln. Dinge zu tun, zu denen ich sonst nicht komme, ein Segen, aber auch ein Fluch, ich kämpfe mit meiner Unzulänglichkeit als Archivar. Was ich alles finde, eine Freude, aber gleichzeitig bin ich wütend, warum habe ich nicht alle Fotos der aus Hietzing stammenden Jüdinnen und Juden, die ich in Amerika besucht habe, ordentlich beschriftet? Und dann schwelge ich in Erinnerungen, zum Beispiel an Michael Kehlmann, dem begnadeten Regisseur für Film und Fernsehen. Im Jahr 2000 haben wir ihm ein kleines Symposium gewidmet. Und dann bei dem Versuch, Schwarzwaldtage in Aussee zu organisieren, hat er für einen kleinen Kreis gesprochen und sein Sohn Daniel war damals auch gekommen und hat über Karl Kraus referiert. Alles findet sich, und gerade hat Daniel Kehlmann die neue Karl Kraus Biographie besprochen. Es gibt keine Zufälle.
    Jetzt wird viel über die Schwierigkeiten der Kommunikation gesprochen, zumindest das Telefon funktioniert. Helfen Telefonate gegen die Vereinsamung oder beruhigen sie nur das Gewissen? In meinem Alltag stoße ich in diesen Tagen auf Kommunikationsfehler, die mehr schmerzen als ein Hausarrest ohne Fußfessel. Ich habe beim Aufräumen Briefe gefunden - so ist das, werden Sie sagen. Aber ungeöffnete Briefe! Und es waren keine Mahnungen und keine Vorschreibungen eines Amtes. Am schlimmsten ist es, wenn die Absenderin bereits tot ist, und ihr Brief vor zehn Jahren abgeschickt wurde. Ich bringe es nicht fertig, den Namen zu nennen. Eine Schwarzwaldschülerin war es, mehrmals war ich bei ihr zu Gast, mit fortschreitendem Alter wurde sie wunderlich, man könnte auch sagen, ein wenig anstrengend. Ihre Liebe zu Eugenie hat sie zur Stalkerin gemacht und so hat sie mich öfter angerufen, das Gespräch habe ich nicht verweigert, aber so unvorbereitet, so im Alltag… kann das etwas anstrengend sein.  
    Merken Sie es: Ich versuche meinen Fehler kleinzureden, Ausreden wie Türsteher zu postieren, damit Sie nicht bis zur Wahrheit vordringen. Es war nicht der einzige ungeöffnete Brief. Vielleicht war es auch ihre katholische Betulichkeit, die mich immer in eine gewissen Unruhe versetzt hat. Jetzt im Hausarrest öffne ich den Brief. Seit vielen Jahren ist sie tot, ihr Haus ist geräumt, und sie spricht in diesem Brief eine Einladung aus, die ich nie mehr einlösen werde können, ich soll wieder vorbeikommen und sie besuchen, sie habe mir noch so viel über die Sekretärin von Fraudoktor von Mariedl, von Marie Stiassny, zu erzählen. Keine Chance mehr. Alles zu spät. Verzweifelt habe ich nach mehr Details über sie vor einiger Zeit gesucht.
    Mir wird heiß und kalt, Fieber ist es nicht. Scham ist nicht ansteckend, wenn es auch so etwas wie fremdschämen gibt. Jedes Gespräch könnte das letzte sein, und lassen Sie Briefe nicht ungeöffnet, doch wer schreibt heute überhaupt noch Briefe?
    Und kurze Zeit später dann eine E-Mail von einem Bekannten aus Dänemark, er hat in der ZEIT eine Buchbesprechung von Elisabeth von Thadden über das Buch von Eva Weisweiler. „Echo deiner Frage. Dora und Walter Benjamin. Biographie einer Beziehung“ gelesen. Die hier zitierte Formulierung von Dora Kellner über Eugenie Schwarzwald, das sei doch eine Ungeheuerlichkeit, das kann doch nur eine Verwechslung sein.
    Ich will mich nicht nochmals an diesem Tag schuldig machen. Schreibe sofort an die ZEIT und dann an den Verlag. Leider könnte ich mir das Buch jetzt nicht besorgen, da alle Buchhandlungen geschlossen sind. Am nächsten Tag die Antwort der Autorin: „Warum Dora noch 1938 an Walter Benjamin geschrieben hat: "Die Akten über Genia Schwarzwald sind nun geschlossen. Sie ist und bleibt ein infames Luder, wird niemandem mehr nützen, aber hoffentlich auch niemandem mehr schaden." So eine scharfe Ausdrucksweise ist atypisch für Dora, ebenso wie die Tatsache, dass sie keinerlei Mitleid zeigte, als ihre alte Lehrerin von den Nationalsozialisten ruiniert wurde. Dies kann nur durch außergewöhnliche Vorkommnisse zu erklären sein.“
    Die Kommunikation funktioniert und gibt Rätsel auf, nach so vielen Jahren. Wir glauben alles zu wissen über eine Person.
    Bei Petra Hartlieb bestelle ich am Nachmittag das Buch online, sonst hätte ich natürlich in der Buchhandlung meines Vertrauens, in der Grätzlbuchhandlung in Lainz, gekauft. Werbung kann nicht schaden. In diesen Zeiten.

    Robert Streibel

    29. März 2020

    Zoran Dobrić, Wien
     

    Elternliebe in Corona-Zeiten (eine wahre Geschichte)

    Eine junge Wienerin, auf dem Rückweg von Brasilien nach Wien, ruft ihre Mutter vom Zwischenstopp am Lissabonner Flughafen an und erzählt ihr, sie sei nachgewiesener Weise in Berührung mit einer Covid-19-infizierten Person gewesen. Auf dem Flughafen habe sie gewisse Formulare lesen und unterschreiben müssen, die sie verpflichten, sich, sobald sie Wien erreicht, in Selbstisolation zu bringen und in Kontakt mit den Gesundheitsbehörden zu treten. Ihre Mutter ruft eine gute Freundin an, erzählt ihr davon und bittet sie um Hilfe. Die Freundin erzählt ihr, wie wichtig jetzt die Distanzdisziplin und unbedingte Quarantäne für ihre Tochter sei. Die Freundin bietet der Mutter das eigene Wochenendhaus als Quarantäne an und klärt die Mutter auf, wie sie mit ihrer Tochter kommunizieren und sie in das Wochenendhaus bringen solle.
    Trotz des Unglücks sind beide Frauen beruhigt, dass die junge Reisende auf die Schnelle gut versorgt werden konnte. Doch bald ruft die Mutter ihre gute Freundin wieder an, und erzählt ihr, der Vater ihrer Tochter sei mit der Lösung, die die beiden Frauen erarbeitet hätten, nicht zufrieden.
    „Was soll das arme Mädchen in einem Wochenendhaus weit weg von den Eltern tun? Wer soll ihr etwas zum Essen und Trinken bringen?“, meinte er.
    „Es ist wahr“, sagt die gute Freundin und organisiert in Kürze ein Apartment, unweit des ersten Bezirks, in dem die junge Frau zwei Wochen in Isolation verbringen könnte.
    „Bitte, es ist wichtig, dass ihr auf keinen Fall direkten körperlichen Kontakt mit ihr habt, sonst müsst auch ihr in Quarantäne. Am besten, mit zwei Autos hinfahren und eines der Tochter für die Rückfahrt übergeben.“
    Zwei Stunden später ruft die Mutter ihre Freundin an und berichtet ihr: „Weißt du, wir haben sie in meine Wohnung gebracht. So ist das Ganze für uns alle einfacher und sie ist nicht alleine. Das hätte ich nicht verkraftet.“
    Darauf fragt die gute Freundin, ob die beiden mit der Tochter körperlichen Kontakt hatten.
    „Ja, wir konnten ihr das nicht antun. Alle in der Ankunftshalle haben ihre Ankömmlinge begrüßt und umarmt, wie hätten wir sie ignorieren können?
    „Ich höre dich gehen, wo bist du gerade?“, fragt die gute Freundin.
    „Ich geh schnell zum Merkur, einkaufen. Uns fehlen ein paar Sachen.“
    „Hast du eine Gesichtsmaske oder Mundschutz an?“, fragt die Freundin?
    „Nein, woher? Alles wird gut“, antwortet die Mutter.
    „Und wo ist dein Ex jetzt?“, fragt die gute Freundin.
    „Er ist zurück ins Geschäft gegangen, du weißt eh, dass die Lebensmittelgeschäfte noch geöffnet sind. Die Leute müssen essen.“

    Zoran Dobrić

     

    Susanne Scholl, Wien


    Nur keine Panik

    So – jetzt ist es so weit. Ich wache mit Kopfschmerzen auf. Sofort läuft vor meinem geistigen Auge das entsprechende Schreckensszenario ab. Ich habe mich angesteckt. Was mach ich jetzt? Ich will auf keinen Fall sterben. Wen ruf ich jetzt an?
    Nach dem ersten Frühstückskaffee sind die Kopfschmerzen fast verschwunden und ich überzeuge mich selbst davon, dass ich heute Nacht einfach schlecht gelegen bin. Ich nehme ein heißes Bad und mache ein paar lustlose Turnübungen.
    Ich habe mich doch nicht angesteckt. Wie hätte ich auch sollen? Seit mehr als zwei Wochen gehe ich nicht mehr aus dem Haus und habe keinerlei Kontakt zu Menschen, die mich hätten anstecken können.
    Und trotzdem fürchte ich mich. So wie wahrscheinlich 99,9 Prozent aller Menschen auf der Welt.
    Und wie geht man mit dieser Angst um?
    Man kann sich sagen, dass lange nicht so viele sterben, wie wir befürchten.
    Man kann sich überlegen, wo man wann mit wem Kontakt gehabt hat, der Virusträger sein könnte.
    Man kann aber auch einfach beschließen, sich nicht in die Ecke drängen zu lassen.
    Ich denke an viele schöne Dinge, die ich gerne tun möchte – „wenn der Spuk vorbei ist“!
    Ich hatte einmal schreckliche Angst vor einer komplizierten Operation, und um diese Angst unter Kontrolle zu kriegen, habe ich mir ausgemalt, welche besonders schönen Kleider ich mir später – „wenn das vorbei ist“ – leisten werde.
    Es hat geklappt. Ich habe meine Angst damit in Grenzen gehalten.
    Jetzt male ich mir aus, wie ich meinen Enkelsohn wieder in die Arme nehmen werde – und die Panik verzieht sich.
    So kann man auch überleben.

    Susanne Scholl

    28. März 2020

     

    Judith Brandner, Königstetten


    Ich möchte nur schlafen. Neulich waren es 12 Stunden am Stück. Vielleicht sollte man diese Krise einfach verschlafen. Der Schlaf ist nicht erquickend. Eine bleierne Müdigkeit lähmt mich tagsüber. Die Zeit verrinnt. Ständig das Gefühl, etwas versäumt zu haben. Nicht rasch genug auf die letzten Nachrichten reagiert zu haben. Auch die Katzen schlafen jetzt noch mehr als sonst. Sie machen nur kurze Spaziergänge. Alleine. Suchen unsere Nähe. Schlafen in unserem Bett. Kuscheln sich an uns. Normalerweise genieße ich die Stille in meinem Büro daheim, mit dem einzigartigen Blick auf den Garten und den Teich. In diesen Tagen ist sie mir zu laut.
    Die Olympischen Spiele in Tokyo sind um ein Jahr verschoben worden. Auf 2021, das Jahr, in dem sich auch die Dreifachkatastrophe mit dem Super-GAU in Fukushima zum zehnten Male jährt. Schon bald, Ende Juni, wartet ein Kamerateam in Hiroshima auf mich. Bis dahin bin ich sicher wieder aufgewacht.

    Judith Brandner

     

    Georg Fraberger, Langau bei Geras


    Das Fieber ist vorbei und damit auch die Schonfrist für meine Frau. Übrig geblieben ist die kindliche Frage, wie man als Toter riecht. Übrig geblieben sind von den kindlichen makabren Fragen jedoch auch die grundsätzlichen Fragen: Bin ich am richtigen Ort? Bin ich glücklich? Was brauche ich für mein Glück? Seltsam ist, das ich zwar immer noch Wünsche habe-  wie zum Beispiel ein Computer, ein Handy, ein Auto -, dass ich aber wieder Autofahren möchte noch vor dem Computer sitzen noch soviel telefonieren. Eigentlich möchte ich zu Hause sein und meinen Alltag genießen können. Die Frage ist also: Wie kann mir das gelingen?

    Georg Fraberger

     

    Peter Rosei, Wien


    Bei meinem ersten Eintrag in diesen Blog schrieb ich: Nach Biedermeier ist mir nicht zumute. - Was ich damit meinte? Angesichts des ringsum aufkommenden Leids war mir nicht danach, mich mit dem Anblick von aus dem alten Laub herausdrängenden Veilchen, dem Bärlauch, der als frischer, grüner Teppich den Waldboden bedeckt, mich mit derlei Dingen abzulenken. Ja, diese Dinge sind ergötzlich - freue dich daran und tröste dich. Vergiss aber nicht auf das Leid der anderen. Sei, wenn irgend möglich, tätig! Kein Absturz in die Idylle! Sage ich jetzt: Nach Biedermeier ist mir nicht zumute, meine ich etwas anderes dazu: Unter einem Metternich möchte ich nicht aufwachen. Was meint: Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, die von Papa Staat gegängelten Kinder zu sein. So nützlich und hilfreich das Regiment des starken Staates jetzt ist - wir als Einzelne haben verfassungsmäßig garantierte Rechte. Die wollen wir bewachen, behalten und keinesfalls uns mindern lassen. Ein freihändiger Umgang mit der Verfassung, wie er von manchen Juristen jetzt im Krisenmanagement beobachtet und moniert wird, sollte uns Weckruf sein.

    Peter Rosei

     

    Gunther Neumann, Wien


    Österreicherinnen werden heimgeholt. Syrien und Somalia dagegen wirken wieder ganz weit weg, zumindest jenseits unserer Wahrnehmung. Aber das Bedrohliche scheint herangerückt. Wir sind auf uns konzentriert, schwanken etwas zweifelnd zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen aufgezwungener Privatheit und einer sehr eingeschränkten Öffentlichkeit, gar Offenheit. Edward Hoppers Bilder werden allenthalben beschworen. Ein Gefühl der Fremdheit liegt über unserer eigenen, scheinbar menschenarmen Stadt. Wenige Passanten kommen mir entgegen, manche wechseln die Straßenseite, andere wenden sich ab oder ducken sich weg, wenige schauen argwöhnisch, als sei ich die unbekannte Bedrohung. Wieder andere lächeln, scheu oder verschwörerisch. Wir Menschen werden in der Krise nicht wirklich anders. Vielleicht verstärken sich ein paar Eigenschaften in uns, schlechte wie gute: Ur-Ängste, ein instinktiver(?) Egoismus, die banale Neigung zum Horten, wie auch zu Verschwörungstheorien, die insgeheime Suche nach vermeintlichen Brunnenvergiftern. Aber auch Freundlichkeit, Solidarität, Selbstlosigkeit. Angst kommt von Enge. Sind wir permanent auf der Hut vor dem Fremden, Bösen? Oder bleiben wir offen, neugierig? Hilfs-bereit?

    Gunther Neumann

    27. März 2020

    Robert Streibel, Wien


    Nichts ist so, wie es einmal war. Positiv sein ist doch wichtig. Wer positiv denkt, lebt länger, wenn er lachen kann und dies auch tut. Da schreibt mir ein Freund, er sei positiv, zum Glück nur leicht positiv, und in den nächsten 14 Tage zu Hause. Positiv, das ist also nicht gut. Sind Optimisten also negativ? In meinem Büro hängt ein Plakat von Heiner Müller und der Unterschrift: „Vorsicht Optimist“. Heiner Müller ist schon tot. Ein Optimist eben. 
    Aber ist jetzt wirklich alles anders? Aus meiner Erfahrung kann ich sagen: Positiv war nie gut. Das habe ich schon beim Bundesheer Ende der achtziger Jahre erfahren können. Da ich schreiben konnte, kam ich in die Schreibstube, und mein Unteroffizier war so nebenbei auch für die Sicherheit zuständig. Nach drei, vier Wochen Dienst musste ich ein Fax holen und ihm auf den Schreibtisch legen. Ich habe es gelesen – am Gang zum Büro. 12 Mann negativ, einer positiv. Eine halbe Stunde später wurde ich in die Küche versetzt. Da wusste ich, ich bin positiv. Meine linken Umtriebe waren offenbar aktenkundig.
    Positiv, negativ. Eben alles relativ.

    Robert Streibel

     

    Georg Fraberger, Langau bei Geras


    Eintrag Nummer vier: Tagsüber wurde bei uns immer wieder thematisiert, ob das Fieber meiner Frau zu ihrem Tod führen werde… Kinder stellen sehr naive Fragen, ohne sich dabei etwas zu denken. Ich hoffe nicht, war stets meine Antwort. Tagsüber sind diese Fragen locker aus dem Mund der Kinder gekommen. Erst nachdem es dunkel wurde, sind mit dieser Frage auch ein paar Tränen und Ängste gekommen. Dann konnte ich auch sicher sagen: Ich weiß, dass das nicht passieren wird. Sie hat nur Fieber, weil sie wahrscheinlich zu dünn angezogen war, Kontakt hatten wir eigentlich mit niemandem.
    Mittlerweile fehlt mir die Arbeit, der Austausch mit Menschen, der mich auch zum Denken anregt. Ich bin also mit meinen eigenen Gedanken konfrontiert, die mir mittlerweile auf die Nerven gehen. Ich will etwas Neues denken. Aber was kann man neu denken, wie kann man sich selbst in einem anderen Licht sehen? Wie kann ich meinen Alltag, meine Möglichkeiten, meine Sorgen und meine Ängste neu denken? Mir ist schon bewusst, dass ich weit mehr bin als meine Ängste und meine Sorgen, aber was ist das weite Meer und wie kann ich das mit Leben füllen? Als Psychologe bin ich gewohnt, im Austausch zu leben. Dieser Austausch ist nun etwas reduziert. Es ist schon spät und deswegen habe ich jetzt die Hoffnung, dass ich vielleicht in der Nacht ein paar inspirierende Träume haben werde.

    Georg Fraberger

     

    Kurt Kotrschal, Scharnstein, OÖ


    Kann sie noch jemand hören, die stündlichen Virusnachrichten, gepaart mit den immer gleichen Aufrufen zum Händewaschen? Wichtige Aufklärung zwar, die aber zunehmend tätschelnd die Intelligenz beleidigt. Gibt es wirklich keine wichtigeren Ereignisse in dieser Welt als Beschaffungsvorgänge für Atemmasken? Beinahe wäre darüber Krieg zwischen den Ländern der EU ausgebrochen, und zur Abwechslung lernen wir nun, China zu lieben. Perspektivenverengung auch durch den Öffentlich-Rechtlichen.
    Begeisterung ob der ausgebrochenen Vernunft und Solidarität kippt in Grant angesichts des ganzen „Team Austria“ und „Alltagshelden“-Sozialkitsches, angesichts einer aufgekratzten Stimmung, die Corona als ersehnte Unterbrechung des Alltags und als Verheißung eines Aufbruchs in neue Zeiten sieht. Zu Ostern erlöst uns nun nicht Jesus, sondern ein Virus – geht’s noch? Na ja, Menschen haben es eben gerne positiv. Das wissen auch manche Zukunftsforscher, die nun mit einer geläuterten Welt nach Corona, samt gutem, neuem Menschen ihre Popularität aufpolieren.
    Ist nicht auch der ganz besonders schlitzohrige Beginn der Corona-Krise in Tirol typisch „Team Austria“? (Sorry, Herr Bundespräsident, ich fürchte, so sind wir!) Wie schlimm ist es eigentlich, dass der dort herrschende Filz aus Tourismus, Politik und Präpotenz augenzwinkernd die ersten Corona-Fälle unter den Tisch kehrte? Ich muss an Felix Mitterers Piefke-Saga denken; der heutige Tiroler Homo turisticus stellt sie längst in den Schatten. Alles nicht so schlimm also, abgesehen davon, dass ein paar fiebernde Barkeeper halb Österreich und Europa angesteckt haben? Who cares? Der Tiroler Landesrat für Gesundheit offenbar nicht. 
    In Sellrain wurde übrigens letztes Jahr ein Wolf ohne Kopf gefunden. Erschossen, nicht an Corona verendet; wohl aber an jener arttypischen menschlichen Präpotenz gestorben, die uns im Fall von Corona nun alle hart trifft. Sie lässt auch neue Schigebiete ohne Respekt für Natur und Vernunft immer weiter in die fragile Tiroler Bergwelt wuchern. Jagdleiter in Sellrain ist übrigens der lustige und allseits beliebte Tiroler SPÖ-Chef Georg Dornauer.
    Grant macht zornig und das ist manchmal gut so. Fürchten tu ich mich deswegen nicht, stehen doch selbst die tapferen Tiroler Schützen wegen Corona unter Hausarrest. Irgendwie mag ich das Virus doch.

    Kurt Kotrschal

     

    Hinrich von Haaren, London


    Ich lebe im Stadtteil Hackney, im Osten von London. Am 1. April werden es 25 Jahre. Diese Gegend ist eine der lebhaftesten und kosmopolitischsten dieser Stadt, die mit solchen Adjektiven nur so um sich werfen kann. Nun ist die Metropole zum Stillstand gekommen.
    Aber das Drama spielt sich nicht auf den Straßen um meine Wohnung ab, sondern im Fernsehen und im Internet. Täglich werden in den Nachrichten neue Schreckenszahlen gesendet, die sozialen Medien sind voller Angstgeschrei und Galgenhumor.
    Die Nachrichten stiften Verwirrung und machen Angst. Täglich gibt es neue Regeln, die niemand durchschaut. Der reiche Westen sieht sich konfrontiert mit Krankheit und Tod. Das sind wir nicht gewohnt. Solche Geschichten spielten sich bisher in fernen Ländern ab. Und es scheint mir, als wüssten wir nicht, wie wir unsere neuen Geschichten deuten sollen.
    Was mir hilft, ist die Literatur. Hier gelten – im positiven Sinne – noch Regeln. Wenn ich morgens Ovid in den Metamorphosen besuche, weiß ich, was die Regeln sind – du verärgerst die Götter und wirst in einen Vogel, Hirsch, in eine Schlange verwandelt. Wenn ich nachmittags mit Donna Leon durchs verbrecherische Venedig ziehe, weiß ich, dass am Ende der Mörder gefangen wird. Und wenn ich abends durchs zeitgenössische London der wunderbaren Ali Smith wandere, dann scheint sie mir ein erklärendes Licht auf die letzten Jahre hier zu werfen. In der Literatur wird das Leben gedeutet, im Rahmen einer Seite und eines Romans. Das ist ihre Menschlichkeit, und so ist sie mir, wie immer, ein Trost.

    Hinrich von Haaren

     

    Yara Lee, Wien


    Sankt Corona und die Chancen

    Auch die katholische Kirche hat eine Corona zu bieten. Sie wurde um 160 in Syrien (oder Ägypten), jedenfalls im Nahen Osten, geboren. Sie ist eine Heilige. Sie ist sogar die Patronin gegen Seuchen. Sie ist der Legende nach in einer Christenverfolgung im 2. Jahrhundert für einen Soldaten eingetreten und hat ihm beigestanden, als dieser sich zum christlichen Glauben bekannte und gemartert wurde. So ist sie selbst auch in die Maschinerie der Verfolgung geraten und wurde grausam ermordet.
    Wieder andere wollen nicht alles so negativ sehen. Ich kann das auch verstehen. Sie versuchen die positiven Aspekte der »Krise« herauszuarbeiten, wie zum Beispiel, dass man viel bewusster Selbstfürsorge und Nächstenliebe praktizieren könne: Man würde viel mehr auf sich und seinen Körper achten, häufiger Händewaschen, weil ja die Seife die Hülle des Virus zerstört. Man achte besser auf das Immunsystem, ernähre sich gesünder, stärke sich bewusst an der frischen Luft. Man könne außerdem lernen, über Ängste hinauszuwachsen, indem man sich bewusst die Frage stellt: Welche Angst löst das Virus in mir aus? Die Angst vor dem Tod? Die Angst vor dem Verhungern? Die Angst vor der Unfreiheit? Kontrollverlust? Machtverlust?« - so zumindest stand es im Blog „Love in Action“ zu lesen...
    Man würde sich auch viel mehr auf das Wesentliche besinnen, endlich aus der Hektik des Alltags aussteigen, aus dem Hamsterrad, dem ewigen Streben nach mehr. Viele Tätigkeiten seien durch die Pandemie obsolet geworden oder erschienen nun nichtig. Voller Fokus auf das Hier und Jetzt. Keine Ablenkungen mehr. Und: Mutter Erde dürfe endlich verschnaufen. Weniger Reisen, weniger Flüge bedeuteten weniger CO2-Emissionen. Weniger Industrie und weniger Wirtschaftsleistung bedeuteten auch weniger Feinstaubbelastung. Corona könne uns nach all dem Leid mehr Lebensqualität schenken: Denn Verbundenheit und erfahrene Sinnhaftigkeit machten glücklicher, als dem Geld hinterherzujagen und für Konsumgüter zu schuften. Ist das so? Ich hoffe es! Und dabei bin ich überhaupt nicht dafür, alles immer schön zu reden. Aber ich finde, es liegt auf der Hand: Wir hätten die Chance, die alte, gewohnte Welt hinter uns zu lassen und neue Wege einzuschlagen, die »das Leben fördern, anstatt es zu boykottieren«. Corona sei eine Chance für »neue, glücklichere Formen des Lebens und des Seins« ... für die Menschen, die Tiere und für Mutter Erde.

    Yara Lee

    26. März 2020

    Peter Rosei, Wien


    Erstaunlich und erfreulich, wieviel Hilfsbereitschaft und Zusammenhalt es in unserer  Gesellschaft gibt! Jeden Tag tauchen neue Bekundungen davon auf.  Möge sich möglichst viel davon in die Zeit "danach" hinüberretten! 
    Immer deutlicher zeichnen sich mittlerweile Skylla und Charybdis für die Entscheidungsträger ab, die zwei Felsen des Übels: Hie das Leid der am Virus Erkrankten, schwer Erkrankten oder gar am Virus Sterbenden - dort das Leid der Arbeitslosen, der Delogierten, derjenigen, die nicht an ihren Arbeitsplatz können, jener, die in kleinen, engen Wohnungen ausharren müssen usf. - dazu das in seiner Wucht noch nicht fassbare und abschätzbare Leid, das eine wirtschaftliche Depression mit sich bringen würde. Klar ist, dass hier abgewogen werden muss: Wie soll der Kurs sein? Klar ist, dass für die nicht produktiven Teile der Bevölkerung - zufällig fallen sie mit der Gruppe der Hochgefährdeten grosso modo zusammen - der Lockdown länger anhalten wird, einfach, weil es Leben schützt, ökonomisch aber nicht schadet. Kulturelle Events werden wohl leider auch als "unproduktiv" eingestuft werden. Alle anderen gesellschaftlichen Bereiche werden langsam, langsam, sobald es nur irgend angeht - unter Einsatz weiterer finanzieller Stimuli - der Normalisierung entgegengehen. Normalisierung - was das ist, wird neu zu definieren sein. Sparen - das kommt später. Dann wird sich vor allem die Frage stellen, wo gespart werden soll und auf wessen Kosten. Ob die derzeit aus der politischen Leichenkammer hervorgeholte Sozialpartnerschaft dann wieder dorthin zurückbefördert werden wird. Wollen wir "danach" eine sogenannte freie, das heißt, möglichst deregulierte Wirtschaft haben, oder halten wir fest: Solidarität, Kooperation sind doch nicht schlecht, im Gegenteil, gesellschaftlich höchst nützlich, darüber hinaus als Konzepte menschlich wertvoll?
    Vielleicht kann es gelingen, das zwischenmenschlich Gute und Erwünschte mit dem gesellschaftlich Guten und Erwünschten doch überein zu bringen? Die ökonomische Mechanik einer so verfassten Gesellschaft wäre dann das sekundäre Ergebnis - oder wollen wir unsere Werte, umgekehrt, von einer als effizient definierten Ökonomie herunterrechnen und bestimmen lassen?

    Peter Rosei

     

    Georg Fraberger, Langau bei Geras

     

    Der heutige Tag hat eigentlich sehr gut begonnen. Ich habe es genossen, so viel zu Hause zu sein. Wir waren einkaufen, die Kinder haben Hausübungen gemacht, und es war sehr angenehm und sehr schön. Doch am Nachmittag hat meine Frau Fieber bekommen. Spätestens jetzt wird auch die gelassenste Seele von der Stimmung und dem Schauer ergriffen, der die Welt derzeit beherrscht. Weil das Vertrauen in die scheinbare Sicherheit plötzlich weg ist. Was ist, wenn es doch das Virus ist? Das ist die große Frage. Doch woher kommt es? War es vielleicht als Paket verkleidet? Haben wir uns im Geschäft an irgendeinem Menschen angesteckt? Aber wir haben doch niemanden gegrüßt, wir sind doch sonst nicht außer Haus gegangen? Oder wenn, dann nur zu spazieren? Vielleicht bringen ihn die Katzen, wenn sie zum Nachbarn gehen? Aber der ist doch gesund - zumindest sieht er gesund aus. Man wird wirklich zum Hypochonder. Am besten ist es, wenn wir den Computer in den nächsten Tagen gar nicht mehr aufdrehen. Schon eigenartig, wie 1 bis 2 °C das ganze Leben verändern können…

    Georg Fraberger

     

    Robert Misik, Wien


    Die pandemische Gesellschaft

    Einen schönen Tag aus dem Hausarrest, oder wie man heute sagt, dem Home-Office, ich möchte Ihnen ein wenig erzählen, was mir so durch den Kopf geht, extrem subjektiv, klar, alles ist immer subjektiv, aber das Subjektive ist jetzt noch subjektiver, weil man anderen Leuten, Leuten, in die man sich einfühlen könnte, ja nicht einmal begegnet, heutzutage. Wir sollen ja soziale Distanz halten. Und in einer solchen Situation ist die Subjektivität noch subjektiver, als sie sowieso immer ist, hab ich das Gefühl.
    Zwei Wochen ist es jetzt her, dass die ersten Notstandsmaßnahmen verhängt wurden, und mehr als eine Woche, dass die massiven Einschränkungen in Kraft traten. Und es ist ein schleichender Vorgang, weil wir alle ja erst nach und nach begreifen, in welcher Lage wir sind, was da möglicherweise auf uns zukommt, eine "Naturkatastrophe in Zeitlupe" hat das dieser Popstar unter den deutschen Virologen genannt, und das ist es ja auch irgendwie, wir sehen eine Lawine, aber sie kommt sehr langsam auf uns zu. Und das führt zu einer eigentümlichen kognitiven Dissonanz zwischen dem Gefühl der Katastrophe und dem Gefühl der Normalität, denn wir leben zwar nicht unseren normalen Alltag, aber wir sind natürlich nicht mit einer Katastrophe konfrontiert, nicht mit Sterbenden, die meisten von uns nicht einmal mit Kranken, viele kennen nicht einmal eine Person, die mit Corona infiziert ist.
    Die Geschichte der Epidemien lehrt uns auch, - ich lese jetzt dauernd, wenn ich mich entspannen will, die Geschichte der Epidemien, Weltgeschichte von Pest, Pocken, Cholera und Spanischer Grippe. Um mich von den aktuellen Nachrichten abzulenken, mich aber zugleich nicht zu einem völlig abwegigen Thema zwingen zu müssen, lese ich die Weltgeschichte der Epidemien - also, was ich sagen wollte, die Weltgeschichte der Epidemien lehrt uns auch, dass sie langfristige Mentalitätsveränderungen bringen können. Wussten Sie, dass das Schönheitsideal des dürren, blassen, durchsichtigen Models direkt aus der Tuberkulose-Epidemie kam, weil die auch die Reichen, die Jungen, die Künstler, die Intellektuellen traf, und diese zwar hinraffte, aber sie, anders als etwa die Pocken, nicht entstellte? Ohne Tuberkulose sähen unsere Modezeitschriften heute anders aus, aber bitte, ich schweife ab....
    Epidemien können Gesellschaften verrohen, aber auch der Wissenschaft zum Durchbruch verhelfen, manchmal sogar beides gleichzeitig. Während der Pestepidemien, besonders in den ersten Wellen, da war das noch so, dass viele dachten, die Pest sei von Gott geschickt, eine Strafe für die Sünder. Und es gab auch Gemetzel, man dachte, Minderheiten hätten sie eingeschleppt, und diese Minderheiten wurden dann Opfer von Pogromen. Und selbst wenn es nicht so arg kam, haben Pandemien oft zu religiöser Rigidität, zu Frömmlertum geführt. Aber zugleich auch zum Durchbruch von Wissenschaftlichkeit, zu modernen Hygienestandards, weil es auch Mediziner und auch Regierende gab, die verstanden haben, dass das eine Krankheit ist, die biologische Ursachen hat, und dass da kein Gott beteiligt ist.
    "Epidemics kill Compassion, Too", hat ein Kolumnist in der New York Times geschrieben, weil wir natürlich zwar Mitgefühl mit unseren Nächsten, mit den Opfern einer Pandemie haben, wir aber auch aufs eigene Überleben schauen, und wenn wir aufs eigene Überleben schauen, dann ist der Nächste, der Nachbar, der Passant, der uns zu nahe kommt, in einer Pandemie eine tödliche Gefahr. Gewiss leben wir nicht in so finsteren Zeiten wie damals, als man die Kranken in den Straßen liegen ließ und versuchte, das Weite zu suchen, doch es braucht nur einer neben dir zu husten und schon wird Mitgefühl ein wenig überlagert durch den Instinkt: "Nix wie weg". Manche Katastrophen sind Motoren von Solidarität, Erdbeben etwa, da kann man Obdachlose bei sich aufnehmen oder Verschüttete gemeinsam ausgraben, aber manche Katastrophen sind eher keine Schule der Solidarität, und Epidemien gehören sicherlich dazu.
    Pandemien können daher einen Schleier wegziehen, einen Vorhang vor liebgewonnenen scheinbaren Gewissheiten, und uns etwas über uns sagen, über unsere Nächsten, etwas, was wir gar nicht so genau wissen wollten, womöglich. Und über unsere Gesellschaft. Was wir auch lernen: Wir alle hängen zusammen. Man kann sich nicht gut alleine retten. Also nicht auf Dauer. Auch der Stärkste kann nur dann gut leben, wenn auch der Schwächste sicher ist. Das hat in der Geschichte auch zu hygienischen Wohnungen, zu kulturellen Fortschritt, zu ordentlicher Wasser- und Abwasserversorgung, zu einem Gesundheitssystem für alle geführt, weil Pandemien klar machen, wenn das Gesundheitssystem NUR für die Reichen funktioniert, dann funktioniert es für niemanden, nicht einmal für die Reichen. Das ist durchaus eine gute Nebenfolge von Pandemien.
    Zugleich führen Pandemien zu autoritären Versuchungen der Herrschenden, weil mit Hinweis auf die medizinische Lage Notmaßnahmen und diktatorische Anordnungen gesellschaftliche Zustimmung finden, die sonst nie Zustimmung fänden, und wie die Herrschenden so sind, sie haben es hinterher selten eilig, diese diktatorischen Vollmachten wieder abzugeben. Was wir aber zugleich auch lernen, nur so als ein Beispiel, ist, dass diese Vorstellung, und wir hatten sie doch irgendwie alle, diese Vorstellung, dass moderne Gesellschaften stabil sind, dass sie Sicherheit und Kontrolle bewahren, auf sehr wackeligen Beinen steht. Gewiss wussten wir, dass jeder einzelne von uns in schwierige Situationen kommen könnte, dass wir ins Elend rutschen könnten, dass wir krank werden könnten, dass wir einen Unfall haben könnten, aber die allermeisten von uns sind intuitiv doch immer davon ausgegangen, dass die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen die Kontrolle bewahren, es gab da schon so ein grundlegendes Sicherheitsgefühl, von der Art: Überfährt mich ein Auto, kann ich mich wenigstens auf beste Versorgung und eingespielte Abläufe verlassen. Chaotischen, gesellschaftlichen Kontrollverlust hatte praktisch niemand von uns erlebt, das ist für uns unvorstellbar - gewesen. Und das ist, mit bangem Blick auf Italien, nicht mehr so.
    Wir sehen auch viele Kleinigkeiten, die uns sonst nie aufgefallen wären, etwa, dass man praktisch keinen Raum verlassen kann, ohne eine Türklinke zu berühren. Wir sehen, wie wichtig für manche von uns diese informellen, losen Begegnungen mit Menschen sind, mit denen wir nicht wirklich eng befreundet sind - und andere sehen vielleicht auch, wie wenig sie diese Begegnungen benötigen. Manchmal denke ich mir, das ist ein ganz interessantes Gesellschaftsexperiment, in dem wir da sind, aus einer Beobachterposition kann man es mit Staunen verfolgen, nur, dass wir in dieser Situation als Menschen die erstaunliche Eigenschaft haben, die Beobachter und die Laborratten zugleich zu sein.

    Robert Misik

     

    Judith Brandner, Königstetten

     

    Es ist uns einfach so lang so gut gegangen. Zu gut gegangen. Sagt meine Mutter, mit der Betonung auf ZU. Sie lebt in Salzburg, ich in Niederösterreich. Ich rufe sie in diesen Tagen öfter an als vorher. Nicht mehr nur am Samstag. Ihr Leben hat sich wenig verändert. Die Heimhelfer*innen tragen jetzt Schutzkleidung. Der Zusteller von „Essen auf Rädern“ hält Abstand und nimmt kein Bargeld mehr. Der Fußpflegetermin ist abgesagt worden. Mutter klingt jetzt fröhlicher als vorher. So viele Nachbar*innen haben ihr ihre Hilfe angeboten! Der Bundespräsident hat so schön und respektvoll von den alten Menschen gesprochen! Auch der Bundeskanzler mache sich sehr gut, findet sie. Mit meinen Schwestern tausche ich Blumenbilder via WhatsApp aus. Ich beginne den Tag mit einem Foto von der eben aufgeblühten rosa-weißen Kamelie im Garten. Die Jüngere, im hunderte Kilometer entfernten Home-Office in Deutschland, möchte gerne bald telefonieren. Sie fühle sich ein wenig isoliert. Sie darf nicht mehr nach Österreich einreisen.
    Japan ersucht alle Reisenden aus Europa, Ägypten und dem Iran, sich 14 Tage unter Selbst-Quarantäne zu stellen. Die ersten findigen Hotelbesitzer bieten günstige Zimmer an. Wer will jetzt ausgerechnet nach Japan?! Mein Ticket nach Tokyo für Juni habe ich vorsorglich schon lange davor gebucht. Weil doch zu erwarten war, dass die Preise rund um die Olympischen Spiele in die Höhe schnellen würden. Auch mein Lieblingshotel in Tokyo ist vorreserviert. Und nun gibt es diesen neuen, unsichtbaren Feind, der sich ausbreitet. Ich denke an Fukushima. An die Menschen, die sich an das Leben mit einer unsichtbaren Gefahr gewöhnt haben. Oder davor geflüchtet sind. Vor Corona kann jetzt keiner mehr flüchten. Geschlossene Geschäfte, leere Plätze. Menschen mit Masken. Die Aufforderung, daheim zu bleiben und Kontakte zu meiden. Im dekontaminierten Fukushima immer noch Hot-Spots, nach neun Jahren. Da ein Atomkraftwerk, das in die Luft geflogen ist und winzige radioaktive Partikel ausgestreut hat. Dort ein Virus, das sich in feinen Aerosolen über uns breitet und in uns eindringt. Man sieht es nicht, man hört es nicht, man riecht es nicht. Die Radioaktivität ist nicht übertragbar. Man-made disaster, in beiden Fällen. Wildtiere am Speiseplan in der chinesischen Provinz, Ballermann und Komasaufen in den Tiroler Bergen. Keine Naturkatastrophen. Ich esse keine Tiere. Die, die mit uns leben, sind mir jetzt wichtiger denn je.
    Die gute Nachricht kommt am späten Nachmittag. Endlich ruft E. an. Er und seine Frau R. haben seit vier Jahren auf einen Asylbescheid gewartet. Jetzt ist er da. Positiv. Eine Sorge fällt weg. Bald wird R. ihr zweites Kind bekommen. E. und R. haben die letzten Monate fast durchgehend im St. Anna Kinderspital verbracht. Ihr dreijähriger Sohn wartet auf eine Knochenmarktransplantation. Er hat Leukämie. 
    Schriftsteller-Freund*innen schicken mir Texte und Links zu ihren YouTube-Auftritten. Die älteste von ihnen, Jahrgang 1923, telefoniert lieber. Sie fühle sich an das Frühjahr 1945 erinnert, kurz nach der Befreiung, an die Unsicherheit über die Frage, wie es weitergehe würde. Der Antrag meiner Mutter auf Erhöhung der Pflegestufe ist abgelehnt worden. Es fehlen vier Stunden Pflegedarf. In einem Jahr darf sie, die heuer 83 geworden ist, einen neuerlichen Antrag stellen. Sie nimmt es mit erstaunlicher Gelassenheit.

    Judith Brandner

     

    Ursel Nendzig, Wien


    10 Tage in Isolation, nur wir vier. Die Familiendynamik ändert sich. Die beiden Söhne, neun und sieben Jahre alt, laufen, sich prügelnd, durchs Wohnzimmer. Der Mann und ich schauen zu, über den Rand unserer Teetassen hinweg, es ist ein bisschen wie Kino. Diese beiden sich balgenden Kinder, die abwechselnd und gleichzeitig lachen, weinen und schreien, die wie ein Knäuel zwischen unseren Möbeln durchwirbeln, die gehen uns nichts an. Aber es ist spannend, sie zu beobachten. Hat der Große den Kleinen grade wirklich gebissen? Ja, ich hab es auch gesehen. Schau, obwohl er einen Kopf kleiner ist, kann er ihn im Schwitzkasten halten. Uh, ist das Blut an der einen Backe oder Ketchup? Was ich jedenfalls sagen wollte: könntest du ein Brot einkaufen? Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, es ist Ketchup.
    Das war zu Beginn der Isolation anders, in Phase eins.
    In Phase eins waren wir, so merkwürdig das klingt, euphorisch. Wir hatten das Gefühl, am Beginn eines Abenteuers zu stehen. Wir würden zuhause bleiben, die Kinder unterrichten. Wir würden Hochbeete bauen und im Kinderzimmer endlich den Schreibtisch aufstellen. Davor würden wir ausmisten. Wir würden so viel Zeit zusammen verbringen, Essenspläne aufstellen und kochen, kochen und kochen. Ganz in Ruhe. Und zusammen sein, reden, Spiele spielen, ach, es würde eigentlich richtig schön werden.
    Phase eins dauerte insgesamt zwei Tage.
    Am ersten Homeschooling-Tag holte uns Phase zwei ein: Überforderung. Wie sollen wir das alles bitte hinkriegen? Wann werden wir bitte wieder Geld verdienen? Wie schaffen wir das bitte, ohne uns zu zerfleischen? Die mühsam zusammengeschusterte Strategie: sich zusammenreißen, sich an Pläne halten, so viel Normalität wie möglich wahren. Dazu gehört natürlich auch: jeden einzelnen Streit der Kinder zu schlichten.
    Diese Phase dauerte wieder zwei Tage.
    Aktuell befinden wir uns also in Phase drei, die vermutlich längste Phase dieser Isolation. Sie ist bestimmt von Resignation. Wir können nicht jeden Streit schlichten. Also beschränken wir uns auf jene, die drohen, blutig zu enden. Den Kindern haben wir das auch klar gemacht: Hört zu, wir fahren sicher nicht in ein Krankenhaus mit euch. Erstens, die Ansteckungsgefahr, zweitens ist seit 16 Uhr Schnaps in meinem Tee.

    Ursel Nendzig

    25. März 2020

    Clemens Berger, Wien

     

    Brief an Amalia

    Der letzte Tag in der Freiheit, wie wir sie kannten, fiel auf einen ungewöhnlich warmen Donnerstag Mitte März. Ich führte Dich im Kinderwagen aus, als ich von einem Freund die Nachricht bekam, am nächsten Tag würden Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus verkündet, die unser Leben drastisch veränderten. Freunde aus den Medien konnten das nicht bestätigen, meinten allerdings, am Abend gebe es ein Pressegespräch mit dem Kanzler. Wir fuhren am ersten Supermarkt vorbei, in den zweiten aber hinein, vorbei an halbleeren Regalen und gestressten Menschen. Das Erstaunen darüber, dass es auf einmal nicht mehr alle Sorten Nudeln und von manchen Lebensmitteln wenig bis nichts mehr gibt, sagt viel über das Leben im Globalen Norden aus: Was anderswo die Regel ist, verbreitet hier Panik.
    Ich schob Dich in einen Park. Überall beratschlagten Mütter und Väter, wie sie mit der kommenden Schließung der Schulen und Kindergärten umgehen sollten. Universitäten und Theater waren bereits geschlossen. Alles blühte, Du griffst in einen gelben Strauch, als mir klar wurde, dass das vielleicht nicht so gut sei, weil Du derzeit alles, was Du zu greifen bekommst, in den Mund steckst oder zu stecken versuchst. Es folgte eine kleine Auseinandersetzung um den Goldflieder, den Du in Deiner Faust hieltst; am Ende gelang es mir aber doch, die Oberhand zu behalten und Dein Händchen zu säubern. Mit größtem Interesse beobachtetest Du die Kinder, die laufen und reden können.
    Am nächsten Morgen, als wir zu unserem Spaziergang aufbrachen, fiel mein erster Blick auf zwei Männer in orangen Anzügen, die mit Kärchern Mistkübel desinfizierten. Der zweite Blick fiel auf einen jungen Mann, der mit einem heillos überladenen Einkaufswagen aus dem Supermarkt kam. Den dritten Blick hätte ich mir schenken können, trotzdem fuhren wir an die Scheiben heran und sahen: Menschenschlangen vor den Kassen. Auf unserem Weg zur Schmelz beratschlagten wieder Eltern vor Schulen und Kindergärten, ich vereinbarte mit Deinen Großeltern in Oberwart, den fürs Wochenende geplanten Besuch zu verschieben. Auf der Schmelz spielten Kinder Schnitzeljagd, liefen einander hinterher und riefen: Hast Du jetzt Corona, oder was?
    Zuhause schaltete ich das Fernsehgerät ein. Weil Du Österreicherin und Deutsche bist, lauschten wir zuerst den deutschen Nachrichten. Ein Unternehmer an der Grenze zum Elsass, wo viele mit dem Virus infiziert sind, meinte, er lasse seine Arbeiter weiterhin aus Frankreich zur Herstellung von Pipelines kommen, weil dies noch nicht verboten sei. Ein junger Arbeiter sagte: Wir sollten einfach weitermachen wie immer. Kurz darauf verkündete die österreichische Regierung ihre am Montag einsetzenden Notmaßnahmen.
    Montagmorgens spazierten wir über stille Straßen, an uns fuhren leere Straßenbahnen vorbei, Geschäfte hatten geschlossen, im Vogelweidpark und auf der Schmelz war es ruhig wie nie. Am Vortag warst Du sieben Monate alt geworden. Du hast ein neues Bett bekommen, das Beistellbettchen ist zu klein geworden. Wir erleben gerade, wie schnell drastische Maßnahmen ergriffen werden können. Wir hoffen, dass, wenn das Schlimmste überstanden ist, eine große Forderung erschallt: Dass es auf keinen Fall weitergehen soll wie immer.
    Kurz nach sieben Uhr abends betrat ich einen leeren Supermarkt. Deine Mutter wartete mit Dir vor der Tür. An der Kassa gab mir die Kassiererin ohne Erklärung fünfundzwanzig Prozent Rabatt auf jeden Artikel. Als ich es bemerkte, bedankte ich mich. Sie lächelte.

    Clemens Berger

     

    Harald Klauhs, Wien

     

    Jetzt kommt mir zugute, dass ich ein asozialer Mensch bin. Nicht in dem Sinne, dass ich anderen nicht helfen möchte, aber in jenem, dass ich nicht mit ihrem Privatleben behelligt werden möchte. Denn das ist in den meisten Fällen genauso uninteressant wie meines; oft sogar ähnlich. Die „sozialen“ Netzwerke haben in den vergangenen Jahren eine Flut an Privatem in die Öffentlichkeit gespült, das mich so gar nicht interessiert. Mich beschäftigt auch nicht, wem was gefällt. Ich frage mich vielmehr: Was bedeutet diese Krise? Was bedeutet dieses Verbot von persönlicher Kontaktnahme, die erzwungene Abschaffung von Intimität? Ja, wir können Telefonieren, Video-Konferenzen machen, Skypen, auf zig digitalen Kanälen uns „verständigen“. Aber was bewirkt das, dass wir uns mit mindestens einem Meter Abstand begegnen dürfen?

    Ich bin gestern rund um die Steinhofgründe spaziert. Am Rückweg bin ich ein Bächlein entlanggegangen, das ins Rosental hinabfließt. Da plätschert links des Weges der Bach und rechts davon steigt der Satzberg hoch. Das Weglein ist deshalb schmal. Da kam mir ein Mann entgegen. Ich wollte einen Schritt zur Seite treten, um auszuweichen. Doch er drehte um, suchte eine etwas weniger steile Stelle und kletterte den Hang hinauf. Damit er mindestens eineinhalb Meter Abstand zu mir hat. Ich ging vorüber und bedankte mich. Und fragte mich, was ich da jetzt gerade erlebt habe.
    Nicht, dass ich gern ein Bad in der Menge nähme. Ganz im Gegenteil. Aber was bedeutet das, einander nicht mehr näherkommen zu dürfen? Das sind die Dinge, die mir durch den Kopf gehen.

    Harald Klauhs

     

    Elisabeth Klar, Wien

     

    Heimquarantäne und Gremlins

    Heimquarantäne und sozialer Rückzug ist ein Marathon, kein Sprint, sagen sie. Unsere Wohnung sagt: Schleicht‘s euch wieder, ich mag euch nimma, ihr seid viel zu oft daheim! Am ersten Tag unserer Heimquarantäne fängt jedenfalls das Licht in der Wohnküche an zu flackern, als ich mir Kaffee in der Mikrowelle wärme, dann flackert die Uhr-Anzeige der Mikrowelle, dann raucht der Herd. Gleichzeitig schaltet sich unser Saugroboter ein und fängt an, in der Gegend herumzufahren und zu saugen. Das ist der Punkt, an dem ich Puck rufe, und ihn frage, was er davon hält (ja, ich bleibe manchmal auch etwas zu ruhig). Vernünftigerweise dreht er den Strom ab (ja, ich bin auch manchmal etwas zu langsam).
    Später sitzen Puck und ich lachend auf dem Boden, weil wir am ersten Tag unserer Quarantäne schon keinen Herd und keinen Backofen mehr haben, und auch niemanden kommen lassen können, um ihn zu reparieren oder einen neuen zu installieren. Eine Nachbarin, die Elektrotechnikerin ist, hat uns zwar beruhigt, dass wir vermutlich nicht abbrennen werden, uns aber doch empfohlen, den Stromkreis für den Herd mal lieber abgedreht zu lassen, da das Gerät wohl einen Kurzschluss hatte. Wir bekommen eine Kochplatte geliehen und fragen uns lachend, was am zweiten Tag der Quarantäne kaputt gehen wird.
    Es ist die Mikrowelle (zunächst).
    Sie flackert wieder, als ich mir am nächsten Tag Essen wärme. Dann schaltet sie sich aus, der Saugroboter schaltet sich dafür wieder ein.
    Dabei hatte ich in der Früh noch frohen Mutes getwittert, dass am Quarantäne-Tag 2 noch keine neuen Brände entstanden seien.
    Wir können – nachdem die bereits genannte Nachbarin über Telefon Krisenmanagement betrieben hat und wir erkannt haben, dass zwischen der Legende des Sicherungskastens und seiner Realität eine gewisse Lücke klafft – die Mikrowelle als demselben Stromkreis zugehörig identifizieren, an dem auch die meisten unserer Steckdosen hängen. Deshalb schaltet sich auch jedes Mal der Saugroboter ein, wenn dieser Stromkreis Probleme macht: Er wird nicht mehr geladen und glaubt, er muss jetzt arbeiten.
    Neue Theorie: Die Mikrowelle ist durch den Kurzschluss des Herds auch kaputt gegangen.
    Neue Perspektive: Nicht nur kein Herd und kein Backofen und keine Mikrowelle, sondern, da wir diesen Stromkreis nun auch abschalten müssen, auch eine starke Reduktion an funktionierenden Steckdosen und kein WLAN (wir prognostizieren Kämpfe um das Aufladen der Laptops und sind erleichtert, eine solarbetriebene Powerbank für das Aufladen der Smartphones zu haben). Immerhin der Kühlschrank funktioniert noch.
    Schließlich finde ich aus heraus, wo ich die Mikrowelle abstecken kann, wir schalten den Stromkreis für die Steckdosen wieder ein, sie funktionieren allerdings weiterhin nicht.
    Wohnungsbrand rückt wieder in greifbare Nähe, die Nerven sind schon etwas strapaziert.
    Die Nachbarin beruhigt, meint dann, es könnte an den Schmelzsicherungen im Keller liegen, tauscht diese aus.
    Die Steckdosen funktionieren wieder, wir lachen wieder, wenn auch etwas nervöser als zuvor.
    Ich fange an, auf der einen Kochplatte, die wir jetzt haben, das Essen zu wärmen, das ich eigentlich in der Mikrowelle wärmen wollte, drehe die Kochplatte an, und die Steckdosen fallen wieder aus. Der Saugroboter schaltet sich ein.
    Das ist der Zeitpunkt, an dem wir dann doch den technischen Notdienst des Bauträgers anrufen.
    Der Elektriker, zu dem wir verbunden werden, informiert uns, dass sich das wie ein Null-Leiter-Schaden anhört, wir sehr wohl abbrennen könnten, den Strom sofort ausschalten und alles abstecken sollen, und er kommt.
    Klar, in dem Fall dürfen und müssen wir ihn in die Wohnung lassen – wir können ja wohl schwer wegen einer potentiellen Ansteckungsgefahr das gesamte Mietshaus anzünden. Würde zwar die Keime töten, ist aber vielleicht trotzdem nicht die beste Idee. Gleichzeitig dürfen wir den Elektriker aber nicht unnötig gefährden.
    Das heißt: Den gesamten Strom bis auf das Badezimmer ausschalten, zusätzlich alle Geräte ausstecken, mit allen verfügbaren Verteiler- und Verlängerungskabeln den Kühlschrank mit der Badezimmersteckdose verbinden, da wir nicht wissen, wann der Strom wieder gehen wird, und uns sonst die Tiefkühltruhe abtaut. Dann im Dunkeln mit Stirnlampen möglichst alles frei räumen, damit der Elektriker mit möglichst wenig in Berührung kommt, mit Flächendesinfektionsmittel alle Türgriffe, Lichtschalter, Steckdosen, den Sicherungskasten und alles andere desinfizieren, was er vielleicht angreifen könnte (macht diese Bereiche zwar nicht keimfrei, reduziert aber die potentielle Virenlast deutlich, was das Infektionsrisiko wiederum senkt). Dann alles durchlüften, um die Virenlast weiter zu reduzieren.
    Dann warten wir und können ein wenig durchatmen.
    Als er anläutet, desinfizieren wir uns noch einmal intensiv die Hände (ja, die Hände hassen uns dafür auch sehr intensiv), und setzen die Mundschutzmasken auf, die wir in Nepal gekauft haben, damit uns vom Feinstaub in Kathmandu nicht ganz so schnell schlecht und schwindlig wird. Da wir in dem Fall ja die Gefahrenquelle sind, ist das sogar sinnvoll.
    Das Ganze hat inzwischen schon ein bisschen Horrorfilmatmosphäre, wir sehen aber immerhin nicht aus wie die Opfer. Während der Elektriker am Sicherungskasten werkt und wir im Badezimmer sitzen und versuchen, mit unseren desinfizierten Händen möglichst wenig anzufassen, entwickeln wir trotzdem die Theorie, dass wir Gremlins haben.
    Stattdessen haben wir den schon ferndiagnostizierten Null-Leiter-Schaden. Der Null-Leiter ist offensichtlich bei der Installation nicht richtig festgeschraubt worden und hat sich über die drei Jahre, die wir in der Wohnung gewohnt haben, gelockert. Schöne Zeitbombe halt, die auch hätte hochgehen können, während wir schlafen oder im Urlaub oder in der Arbeit sind.
    Der Elektriker plagt sich noch lange mit dem Sicherungskasten und flucht, findet für uns aber zumindest eine provisorische Lösung und schaltet uns den Strom wieder ein.
    Wir gehen jedes elektrische Gerät nach der Reihe durch, stecken es an, schalten es ein, testen es. Jedes einzelne verdammte Gerät funktioniert. Die Mikrowelle wärmt. Die Netzgeräte unserer Computer laden wie gehabt. Sogar der verdammte Ofen läuft!
    Der Elektriker empfiehlt uns, den Ofen in den nächsten Tagen häufig zu nutzen, um Folgeschäden zu entdecken, und den Strom für dieses Gerät über Nacht zu kappen. Er sieht ansonsten keine Gefahr mehr in Verzug.
    Conclusio: Unsere Wohnung hasst uns doch nicht, sie passt sogar sehr gut auf uns auf!
    Zweite Conclusio: Die Atemschutzmasken aus Nepal sind immer noch unangenehm, wenn man sie länger trägt. Aber besser als am Feinstaub von Kathmandu zu ersticken, ist es allemal.

    Elisabeth Klar

     

    Gunther Neumann, Wien

     

    Ein kalter Grauschleier hat sich über den Frühling von letzter Woche gelegt, über das Gelb der Forsythien, über das Rosa der Magnolien, der Mandel- und Kirschblüten. Tschernobyl – wir erinnern uns wieder – geschah im Frühling. Die Bedrohung war unsichtbar, aber in uns spürbar. Spielen im Freien war nicht angesagt. Die Geschichte wiederholt sich nicht, höchstens als Echo in uns. Unsere Vorstellungskraft speist sich aus unseren Erfahrungen und Erinnerungen, und den schwer erklärbaren Anteilen - Liebe, Ängste, manchmal Hilflosigkeit. Mythen durchziehen die Geschichte der Menschheit seit Anbeginn. Das Unbeeinflussbare sollte gebannt, Geiseln und Plagen der Menschheit zumindest erklärbar werden. Corona ist nicht die Pest. Im besten Fall - wenn wir nicht mit Ökonomisch-Existentiellem beschäftigt sind - gibt es uns die Chance zum Innehalten, zum Nachdenken über unsere gelegentliche Hybris, unsere Anmaßung: Wir Menschen des 21. Jahrhunderts seien gefeit vor den epischen Widrigkeiten des Lebens, zumindest wir, die im selbst so wahrgenommen „hohen“ Norden leben und in den „tiefen“ Süden hinunterblicken. Die Fortschritte der Wissenschaft sind ein Segen, denke ich dieser Tage. Unser Leben dagegen ist und bleibt ein Zyklus. Der Frühling kommt zurück, dann auch Ostern. Vielleicht können wir danach wieder alle unbeschwerter hinaus, nicht nur die Ein-klein-bisschen-Gleicheren unter uns, mit dem eigenen Garten voll Tulpen und Pfingstrosen. Nicht alles lässt sich virtuell erledigen.

    Gunther Neumann

    24. März 2020

     

    Georg Fraberger, Langau bei Geras, NÖ

     

    Zweiter Eintrag: Die Zeit ist ein interessantes Phänomen. Eigentlich haben wir jetzt Zeit, die ganze Familie ist beisammen, und wir haben den ganzen Tag, um zu tun und zu lassen, was immer wir auch wollen. Zeit soll relativ sein und ist doch immer irgendwie an den Ort gebunden. Man sagt, wenn man viel unternimmt, dann vergeht die Zeit schnell. Doch die Zeit vergeht auch dann schnell, wenn man nicht viel unternimmt.
    Mein Tag ist voll, voll von Gefühlen der Freude darüber, dass ich gesund bin und dass wir alles haben, gefolgt von Gefühlen der Unzufriedenheit, gefolgt von Gefühlen, die einen Mangel ausdrücken, gefolgt von Streit, gefolgt von Stress, gefolgt von Wiedervereinigung, gefolgt von Müdigkeit und Erschöpfung. Und all das, obwohl kein Reiz von außen kommt. Nur die Nachrichten, und die sagen auch immer dasselbe. Die Isolation fühlt sich an wie der Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Allerdings bin ich erst am zweiten oder dritten Tag. D.h. ich glaube noch, ich bin im falschen Film. 

    Georg Fraberger

     

    Yara Lee, Wien

     

    Corona oder Coronata

    Seit das Virus in »Ach« angekommen ist, sollen wir unsere Wohnungen nur dann verlassen, wenn es absolut notwendig ist. Aber absolut notwendig ist es fast nie. Manchmal bekomme ich mit, dass ein Rettungswagen mit Blaulicht vorbeifährt. Es ist irgendwie unheimlich, aber ich versuche, es mir gemütlich zu machen. Es sind Vormittage voll von Präludien, durchbrochen nur vom täglichen Lärm der Autowerkstatt nebenan, in der man scheinbar noch arbeiten darf. Ich gehe nur etwa alle zwei Tage hinaus, um zu spazieren und einzukaufen. Da es sonst wenig zu tun gibt, schaue ich oft verträumt aus dem Fenster auf die fast menschenleere Hauptstraße und stelle mir vor, die Straße führe, gekleidet in ihr bleistiftfarbenes Georgette, direkt bis ans Meer bis hin zu Mrs. Maquaire's Chair ... Heute sitze ich vor einer Vogelsinfonie, unvollendet. Ich habe sie eigentlich schon vor Jahren aufgegeben. Ich lausche Abschiedsworten nach, durch die das Echo rauschender Flugbahnen kreist. Das Fenster ist voll von Baumkronen. Das muntere Gezwitscher der Vögel wird im Zimmer zum duftenden Wald. Ich gehe barfuss durch diesen Wald. Ich wünschte, es wäre mir möglich, ohne Vorbelastung durch Wissenschaft oder durch zu Versen gezähmtes poetisches Material dem Menuett aus Vogelstimmen zu lauschen, egal in welcher Form, ob viertaktig auf- oder abwärts in kleinen oder großen Sekunden, in kleiner Reprisenform oder auch nicht in Reprisenform. Vielleicht ist es gar kein Menuett, sondern eine berauschende Pastorale. Es sind Vormittage voll von Präludien, aber auch voll von namentlicher Distanz, die plötzlich prickelt wie eine Pause zwischen dir und mir. Fast jedes Geräusch hat die Eigenschaft, früher oder später zu verschwinden. Dann geht das Schweigen wieder allem voraus. Es geht mit erhobenen Händen und ohne Geschlecht. Im Spiegel lässt sich seine Haltung beobachten. Es lässt sich als Beobachtung festhalten - : Das Wetter ist schön. Es tropft kein Wasser, es tropfen nur Träume aus Höhen auf Erden. Es tropfen Erinnerungen. Es tropft die Unaussprechlichkeit. Sie tropft auf ein Feld voll von Vormittagen, ein Feld voll von Präludien. Ein Feld voll von Behauptungen, die sich verhärten - : die Tage sind frühlingshaft, aber kühl wie die Ansicht asiatischer Handelsgesellschaften. Das Licht ist light. Ein wildes Krokodil wohnt in meiner Brust. Ich habe Angst, das Virus in mir zu tragen, ohne davon zu wissen. Wo zieht es hin? Ich weiß es nicht, aber man gewöhnt sich an alles, auch an die Ungewissheit - : nur halt nicht gut. Man sagt, am Ende würde alles gut. Doch bis ans Ende muss man erstmal kommen. Ganz ehrlich - : ich denke mir, vielleicht nimmt sich die Natur, was sie von uns Menschen braucht - : eine Pause. »Corona«, oder »Coronata«, wird von den Italienern[1] dieses Zeichen genannt, welches, wenn es über gewissen Noten in allen Stimmen zugleich vorkommt, ein allgemeines Stillschweigen, oder eine »Pausam generalem« bedeutet; wenn es aber über einer finalen Note in einer Stimme allein steht, so zeigt es an, dass sie so lange aushalten soll, bis die übrigen Stimmen auch zu ihrem natürlichen Schluß nachkommen; die Franzosen nennen es »Point d'Orgue«. Man braucht es auch in den »Canonibus«, um den Ort zu bezeichnen, wo alle Stimmen innehalten können, wenn geschlossen werden soll.
    Ich habe gelesen, dass anderswo wilde Tiere zum Teil die Städte und Dörfer erobern, da durch die rigorosen Ausgangsbeschränkungen die Straßen menschenleer sind. Delfine kommen bis in die Häfen der Städte. Es gibt auch Berichte, dass das Wasser sauberer sei als zuvor. Durch das plötzliche Ausbleiben von Verkehr und Verschmutzung des Wassers sei dieses nun klar, und man sehe auch wieder die Fische. Nun zeigt das Virus der Menschheit vielleicht, dass sie nicht die über alles erhabene »Krone« der Schöpfung ist. Wenn du mich fragst - : die Menschheit sollte sich in Demut üben, so lange sie noch die Möglichkeit dazu hat ...

    [1]Johann Gottfried Walther: Musicalisches Lexicon, 1732, S. 186

    Yara Lee

     

    Susanne Scholl, Wien


    Entschleunigung

    Ja, natürlich – diese ewigen Appelle, zu Hause zu bleiben, gehen uns schon auf die Nerven.
    Aber – Hand aufs Herz - ist es nicht eigentlich wunderbar, dass man gar nicht mehr nach einer Ausrede suchen muss, um faul zu sein?
    Gut vielleicht bin ich ein besonderer Fall. Mein liebster Spitzname war immer schon Couchpotato – also Diwan-Erdäpfel ...
    Was ich sagen will: Ich bin grundsätzlich eine Zu-Hause-Hockerin, und das mit Leidenschaft.
    Ich freue mich, wenn ich keine Termine habe, ich freue mich, wenn ich einen langen, gemütlichen Tag vor mir habe, an dem ich schreiben kann und kochen und backen und die Katze kraulen und im Fernsehen Blödsinn anschauen und lesen und vielleicht sogar etwas für meinen Enkelsohn stricken.
    Vor allem aber telefoniere und whatsappe ich neuerdings mit vielen Freunden, für die ich in den vergangenen Monaten viel zu wenig Zeit hatte. Jetzt haben wir alle Zeit und plötzlich zeigt sich, wer an mich denkt – viele, viele mehr, als ich geglaubt habe – und an wen ich denke. Das ist die positive Auswirkung dieser Entwicklung, die schlimm ist, daran besteht kein Zweifel.
    Aber – wir sollten an später denken, an die Nach-Corona-Zeit, und die positiven Auswirkungen der Krise nicht verloren gehen lassen. Wir sollten nach Corona große Feste feiern und die Zuneigung, die wir uns während der Quarantänezeit gegeben haben, nicht vergessen.
    Wir sollten solidarisch sein mit jenen, denen es schlecht geht, und immer daran denken, welches Glück wir in diesem großen Unglück hatten.
    Das Glück, eine bequeme Wohnung und gute Freunde zu haben.
    Das Glück, halbwegs sicher zu sein, wenn wir vernünftig sind.
    Das Glück, nicht verfolgt zu werden.
    Bleibt zu Hause, wascht euch die Hände, habt euch liebt. Gemeinsam schaffen wir das!

    Susanne Scholl

     

    Katharina Pressl, Wien
     

    Gefährlich oder schön, je nachdem, wen man fragt

    Der beste Boyfriend von allen - hier stand früher Mitbewohner, dann hat er sich beschwert -, greift sich gedankenverloren unter den Pullover und sammelt mit der Fingerspitze die Fussel im Bauchnabel ein. Er begutachtet die Beute, zwirbelt sie zu einem kleinen Bällchen und wirft ihn aus dem Fenster.
    Meine Schwester kommt aus Deutschland zu uns zum Quarantänieren. Als ich sie der Nachbarin am angrenzenden Balkon vorstelle, duckt die Nachbarin sich und weicht etwas zurück. Als Entschädigung verrate ich ihr, in welchem Geschäft es sehr wohl Klopapier gebe. Später werde ich ihr eine Packung mitbringen. Sie wird es sich nicht nehmen lassen, mir dafür das Geld zurück zu geben, auch auf einen Tauschhandel mit nachbarschaftlichen Tätigkeiten wird sie sich nicht einlassen; sowieso würde sie im Sommer meine Pflanzen gießen. Sie wird schwören, sie habe nur mehr zwei Rollen gehabt. Ich werde erkennen, dass es für unsere Beziehung besser wäre, das Geld anzunehmen, als es abzulehnen. Wenn die Teenagertöchter nebenan überdurchschnittlich aufgebracht mit dem Vater streiten, spreche ich möglichst nah an der Wand laut mit mir selbst, wie spät es sei, ob wir noch Waschmittel hätten, oder mache eine Türe geräuschvoll zu. Dann wird es leise und meine ausufernden Sorgen werden zu einem vernünftigen Binnenland. Das müssen sie auch, da die Realität der Häuslichkeit ein rauer Ozean ist. Der Rückzug ins Private ist sehr gefährlich. Während meine schöne kleine Isolation im Grunde eine gute Zeit ist. Deshalb nicht zuletzt Shout Out an alle Familien und Einzelpersonen, die trotz Ansteckungs- und Verbreitungsgefahr vernünftig genug sind, hinauszugehen, bevor sie sich die Köpfe einschlagen.
    Meine Schwester hat irgendwo gelesen, dass anfänglich gar nicht so viel mehr Klopapier als Mehl oder Nudel gekauft wurden, es eignete sich jedoch besonders als Mangel-Bild, weil die Regale so schnell leer sind, denn Klopapierpackungen sind größer und nehmen mehr Platz ein als kleiner verpackte Lebensmittel. Ich finde alle Klopapierwitze und -referenzen nicht lustig, ich weiß auch nicht warum, und warum sie trotzdem in diesem Text trotzdem so viel Platz einnehmen. Vielleicht, weil ich an einem der vergangenen Abende erzählt habe, ich verspürte im alten Leben, vor Covid-19-Zeiten, bereits leichte Scham, wenn ich mit einer Doppel-Packung Klopapier vom Supermarkt nach Hause ging und dass es mir immer lieber sei, dabei niemanden zu treffen. Die anderen haben sehr gelacht.
    Ich schaue Videos, in denen ein Wellensittich (?) in einem Wellensittich-Bademantel (?) mit Kapuze (!) herumhüpft, zum Beispiel über einen sogenannten Lang- oder Hochflor-Teppich. Manchmal kippt er vorne über, hihi, tollpatschiges Vögelein. Der Mediencontent, den der beste Boyfriend von allen ab und zu mit mir teilt, indem er mir seinen Bildschirm unter die Nase hält, ist ein Wechselbad der Gefühle: einmal Videos von Arnold Schwarzenegger, der gemeinsam mit seinem Pony namens Whiskey und dem Esel namens Lulu für Social Distancing wirbt, ein andermal die Todeszahl aus Italien (mehr als 600 an einem Tag). Ich schnaufe. Jemand postet, dass ja nun endlich alle FPÖ-Wähler Erntehelfer werden könnten, nachdem einem „die Ausländer“ nicht mehr die Jobs wegnehmen. Am Vorabend des internationalen Tags gegen Rassismus (der Welttag der Poesie fällt auf dasselbe Datum: 21. März) erlauben wir uns, nachts hinauszugehen und Plakate aufzuhängen. Grenzen töten. Rassismus tötet. Gesundheitsversorgung für A L L E. (Poesie.)
    Kein Mensch wird’s sehen, wir werden uns ein bisschen besser, ein bisschen aktiver fühlen. Einige andere werden Leintücher aus ihren Fenstern hängen: Lager auf Lesbos evakuieren #WirHabenPlatz. Egal, wie sehr es wahrgenommen wird, es wird zu wenig sein. Es werden viele Leute wütend sein. Es wird berechtigt sein. Es wird so weiter gehen, nicht? Beweisen wir uns das Gegenteil.
    Daweil mache ich, was viele von uns gerade zu machen scheinen: Stundenlang im Internet sein, Serien schauen (diese neue Freud-Serie vom ORF ist sehr creepy und sehr weird und sollte nicht Freud heißen, Staffel 3 von Elite ist zumindest besser als die zweite), Work Out vor Youtube-Videos, nach Jahrzehnten der Abneigung plötzlich joggen als wäre ich Kurz-Wähler, Erlässe für die Isolations-Wohngemeinschaft erteilen und nicht durchführen (Yoga, mehr lesen, mehr schreiben), versuchen, zu anderen Themen durchzudringen, vernünftige Äußerungen aufzutreiben (Mieterlass und alles, das beispielsweise coview.info fordert), täglich kochen, was ohne Lohnarbeit plötzlich Spaß macht, fürs Einkaufen gehen die Zähne putzen, anziehen für Zoom, die Polizei anrufen wegen Lärmbelästigung, wenn sie I am from Austria aus ihren Auto-Lautsprechern spielt und es als ungenutztes Potential empfinden, dass gerade jetzt die Haare eine perfekte Länge aufweisen.
    Das zweite Mal in 27 Jahren speichere ich ein Dokument nicht ordentlich und meine Arbeit scheint verloren. Als hätte ich in diesen Zeiten keine Zeit oder wäre zu abgelenkt, um Dialogfelder nicht durchzulesen. Der beste Boyfriend von allen, normalerweise nicht technisch versierter als ich, findet nach langem wahnhaftem Herumsuchen die Datei in einem failed Uploads Limbo wieder. Die Lasagne wird kalt. Dieser Text ist hier.

    Katharina Pressl

    23. März 2020

    Lou Lorenz-Dittlbacher, Wien

     

    „Hätten wir das gewusst“, höre ich in den letzten Tagen öfter, wenn wir darüber sprechen, was da so unvermittelt über uns hereingebrochen ist. Über das, was unser aller Leben so plötzlich und so einschneidend verändert hat. „Hätten wir das doch vorher gewusst.“ Ich bin mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass ich das nicht vorher hätte wissen wollen.
    Wie wären wir dann in der Silvesternacht in dieses Neue Jahr gegangen? Hätten wir die Chance gehabt, über irgendetwas anderes zu reden, als die bevorstehende Isolation? Über das neue Leben?
    Wir haben Silvester ruhig und innig verbracht. Mit Lebensfreunden, die uns seit Jahrzehnten begleiten. Wir haben gekocht, wir waren spazieren, haben mit den Kindern, die einander seit ihrer Geburt kennen, gespielt. Wir haben gelacht, gegessen und getrunken. Und wir haben über das gesprochen, was kommen wird in diesem Jahr. Über Pläne, Termine, den Sommerurlaub. Und natürlich den gemeinsamen Skiurlaub im kommenden Februar. Seit zwölf Jahren ein Ritual.
    Dieser Skirurlaub auf einer Kärntner Alm war vor sechs Wochen. Corona war damals schon da, aber noch weit weg. Schlimm, was in China los ist. Alles abgesperrt. Wie muss das sein? Unvorstellbar. Wir sprechen immer wieder darüber, aber wir ahnen nicht, wie nah das alles schon ist. Als wir uns verabschieden, sage ich: „Wir sehen uns dann im März, wenn es ruhiger ist.“
    Im März, wenn es ruhiger ist. Nein, ich hätte damals nicht wissen wollen, dass es im März so ruhig ist, dass es mir die Kehle zuschnürt. Dass die Kinder nicht in die Schule gehen können. Dass ich den Eltern den Einkauf vor die Tür stellen muss, ohne sie zu berühren. Dass das riesige Unternehmen, in dem ich arbeite, in dem es an jedem Tag des Jahres pulsiert, wie ausgestorben ist. Dass mir Menschen mit Schutzmasken entgegenkommen. Mit Ganzkörperanzügen und Handschuhen. Dass meine Körpertemperatur gemessen wird, wenn ich die Arbeit antreten will. Nein, das hätte ich nicht wissen wollen.
    Und doch entdecke ich in diesen absurden Tagen auch immer wieder Gutes. Noch nie haben wir einander so oft gefragt, wie es denn so geht. Noch nie haben wir so ohne Termindruck im Hintergrund mit den Kindern gespielt. Noch nie war es so unwichtig, ob alles so aufgeräumt ist, wie man es sonst immer haben will. Vielleicht haben wir einander noch nie so oft gezeigt, wie sehr wir einander mögen.
    „Wenn das vorbei ist, machen wir ein Fest“, schreibe ich unseren Freunden, die ich nun doch nicht im März, wenn es ruhiger wird, sehen kann. „Ausgemacht“, antworten sie. Und so wird es sein. So muss es sein.

    Lou Lorenz-Dittlbacher

     

    Zoran Dobrić, Wien

     

    Erdbeben in Zagreb

    Was kann man sich gerade schlimmer als Covid-19 und seine verheerenden Auswirkungen vorstellen? Die Antwort ist: Wenn eine von dem Coronavirus heimgesuchte Stadt an einem Sonntagmorgen vom Erdbeben geweckt wird. Verstörende Bilder aus der kroatischen Hauptstadt: Einem der beiden Türme der Kathedrale von Zagreb fehlt die Spitze, beschädigte Häuser, Autos unter Trümmern, Dutzende Mütter stehen mit ihren Neugeborenen in Armen vor dem Spital, in dem sie noch vor wenigen Stunden ihre Babys auf die Welt gebracht haben. Ein 5,3 Magnitude starkes Erdbeben hat sie, wie auch viele andere Einwohner, gestern in der Früh auf die Straßen geschickt. Ärzte kämpfen um das Leben eines Mädchens, das von den Trümmern eines Gebäudes verschüttet war. Ich weiß, es wird alles wieder gut, aber jetzt gerade versuche ich bei den Menschen von Zagreb zu sein und denke: Was für eine apokalyptische Vorstellung, in einem Augenblick, in dem als einzig wirksame Schutzmaßnahme vor der Ansteckung die Selbstisolation gilt, die Rettung auf der Straße, unter Menschenmengen, suchen zu müssen. Dieses Bild macht klein und hilflos.

    Zoran Dobrić

     

    Kurt Kotrschal, Scharnstein, OÖ

     

    Als Ruheständler bin ich in der angenehmen Lage, dass das Virus nicht meine Existenz gefährdet – wenn es nicht doch noch den Weg in meine 67 Jahre alte Lunge findet. Als Experte auch für menschliches Verhalten beschert es mir aber nicht etwa kontemplative Ruhe, sondern Stellungnahmen, Talkshows, Interviews - so auch diesen Blog.
    Eigentlich mag ich das Virus und das gesellschaftliche Shutdown-Experiment, das es uns gebracht hat – wären da nicht die Kranken, Toten, Arbeitslosen und die ökonomischen Folgen, die wir noch lange spüren werden. Leuten wie mir, mit gewissen vermeidend-soziophoben Anteilen, beschert ein Zuviel an Sozialkontakten Stress. Dank verordneter Distanz kann ich mir nun noch besser aussuchen, mit wem ich in Kontakt trete (und mit wem nicht), und zwar unter Nutzung der Segnungen der digitalen Kommunikation; mit dem nicht unwesentlichen Wermutstropfen, dass dabei Big Brother immer mithört, beim Chatten, WhatsAppen, beim e-learning oder im digitalen Seminarraum. Die Maßnahmen unserer demokratisch gewählten Regierung treiben damit das Land viel effizienter in die digitale Kompetenz, als alle Schulungsmaßnahmen in „Friedenszeiten“ dies gekonnt hätten – aber auch noch weiter in die Überwachung durch die nicht demokratisch legitimierten Datenmonopolisten. Daran muss sich etwas ändern.
    Wie stark doch die Krise und die eindrucksvolle, wenn auch nicht astrein demokratische Leadership unserer Regierenden den Zusammenhalt im Land stärken! Hoffentlich ist es kein Strohfeuer, dass wir nun solidarisch aufeinander schauen! Solche Geborgenheit tut Menschen gut. Mein Bedürfnis nach dem „starken Mann“ hält sich zwar in engen Grenzen, aber jene 40% der Österreicher, die dieses Bedürfnis hegen, sollten nun besonders glücklich sein. Sarkasmus beiseite – das drastische Erleben der Entscheidungs- und Exekutivmacht einer liberalen Demokratie und seiner gewählten Repräsentanten sollte eigentlich das Vertrauen in ebendiese stärken – wenn der Zustand nicht zu lange andauert.
    Wir erleben saubere Luft und eine vom Lärm der Flugzeuge und Autos befreite Umwelt – und bemerken, dass uns das recht gut tut. Fazit: Es ist möglich, freilich gegenwärtig nur auf Kosten jener Wirtschaft, die unseren Wohlstand sichert. Es keimt die Hoffnung, dass der Neustart in wenigen Monaten zumindest ein wenig zum Umsteuern genutzt werden kann, von einer konzerndienlichen Wirtschaft, welche die Gewinne privatisiert, die Belastungen aber der Gesellschaft aufbürdet, zu einer Wirtschaft der Nachhaltigkeit, in der Lebensqualität nicht mehr von einem Überangebot an zivilisatorischem Firlefanz abhängt. Es braucht einen gemeinsamen Kurswechsel vom Haben in Richtung Sein. Die Hitze des kommenden Sommers wird in Europa wieder fast so viele Menschen töten wie Covid. Im Kampf gegen das Virus verändern wir drastisch Wirtschaft und Gesellschaft; es sollte uns einleuchten, dass der Kampf gegen die noch viel gefährlichere Erderwärmung zumindest denselben Einsatz erfordert. Träumen wird man ja wohl noch dürfen.
    So schillert das Covid-bedingte soziale Isolationsexperiment in vielen Facetten. Nicht alle sind positiv, zumal Einsamkeit Menschen tötet; möge das der neue Zusammenhalt abfangen. Vor allem: Lasst uns alle aus dieser Krise für die Zukunft lernen!

    Kurt Kotrschal

     

    Verena Mermer, derzeit Bowling Green / Ohio

     

    Mein Nachbar klopft an der Haustüre. Gibt mir seine Telefonnummer, ich texte ihm meine. Wenn eine Familie oder Einzelperson krank wird, erledigen die Gesundgebliebenen die Einkäufe, stellen eine Tragtasche oder einen Karton mit den notwendigen Gütern an der Türschwelle ab. Hier in Bowling Green, Ohio, halten sich die meisten Menschen an Hygieneempfehlungen und Ausgangsbeschränkungen. Wohl auch, weil sie wissen, dass das hiesige Gesundheitssystem einer Epidemie nicht gewachsen ist. Six feet away or six feet under, meint ein Freund am Telefon. Wenigstens geht uns der Galgenhumor nicht aus. Seit über einer Woche sind Spezialmasken knapp; auch an Test-Kits mangelt es, daher weiß niemand eine auch nur annährend akkurate Zahl der Infizierten.
    Kassiererinnen in den Supermärkten, Postboten, Krankenpfleger und Ärztinnen tun ihren Job. Alle anderen sind angehalten, Distanz zu wahren. Stay home, save lives. Es ist schwer zu ertragen, dass wir fast nichts tun können – dass wir im Gegenteil am meisten beitragen können, indem wir Handlungen unterlassen. Der Unterricht an der Universität findet online statt. Das Verkehrsamt ist geschlossen, wer mit abgelaufenem Führerschein angehalten wird, soll angeblich keinen Strafzettel erhalten. Restaurants mutieren zu Lieferservices. Ohnehin bereits verschuldete Studierende verlieren ihre Nebenjobs und sind angehalten, ihre Zimmer in den Heimen zu räumen. Der Campus wird zur Geisterstadt.
    Ich bin dort, um die letzten Scans und Kopien zu machen und höre ein Rascheln, das von einem Menschen kommen muss, der sich im Gang bewegt. Ich schlucke ein paar Tränen hinunter, weil dieses alltägliche Geräusch, weswegen ich in normalen Zeiten vielleicht sogar die Bürotür geschlossen hätte, auf einmal wunderbar und kostbar geworden ist. Mit sechs Fuß Abstand grüße ich Kolleginnen und Kollegen; wir stecken alles an Trost und Zuversicht in die Worte, die wir für diese bis auf Weiteres letzten Begegnungen zur Verfügung haben. Die Fallzahlen steigen. We can minimize the pain, verspricht Bernie Sanders; von Donald Trump kommen Sätze wie Our country is doing unbelievably well, oder Because it comes from China, it’s not racist at all. Die Grenzen der USA sind weitgehend dicht, die Grenzen der Europäischen Union ebenfalls, der Flugverkehr ist eingestellt. Anfang der Woche waren die Flughäfen JFK und Newark überfüllt von Reisenden, die Angst hatten, nicht mehr weg zu können. Eine Kollegin musste nach Deutschland abreisen, um ihre alte Mutter zu pflegen; die Betreuerinnen aus Polen kommen nicht mehr ins Nachbarland. Ich habe mich entschieden, zu stranden. Wieso werden dies- und jenseits des Atlantiks Menschenansammlungen vermieden, wenn sie in den Transiträumen zwischen Europa und Nordamerika regelrecht herbeigeführt werden? Die Ankommenden erwartet Quarantäne. Es gibt Schlimmeres. Ich muss an Lesbos denken und will mir die Auswirkungen von COVID-19 in den überfüllten Lagern nicht vorstellen.

    Verena Mermer

     

    Georg Fraberger, Langau bei Geras, NÖ

     

    Das neue Leben hat begonnen. Alles steht still, alle Pläne wurden auf Eis gelegt oder haben sich verändert. Kein Urlaub, kein Auto, keine Freunde treffen, kein gemütliches Essen gehen. Die Einschränkung fühlt sich gar nicht an wie eine Einschränkung, sondern eigentlich wie eine echte Erweiterung. So viel zu Hause wie jetzt war ich noch nie. Nicht, dass ich meine Frau in den vergangenen zehn Jahren nicht kennen lernen konnte. Aber so viel waren wir noch nie zusammen. Ein wenig Unsicherheit bleibt noch. Unklar ist nämlich, wie nah die Gefahr wirklich kommen wird. Wovor müssen wir uns fürchten? Um mich ein wenig damit auseinanderzusetzen, lese ich „Die Pest“ von Camus. Ein Buch, das gut zur derzeitigen Stimmung passt. 

    Georg Fraberger

     

    Abubakar Adam Ibrahim, Abuja, Nigeria

     

    A Stranger’s Call
    Today I received a call from a total stranger asking about my health and it made me happy.
    You see, I have been in Menerbes, a small village in the South of France, where there was no case of coronavirus up to when I left. I hope it stays that way. I had practically no contact with anyone other than a handful of people I shared the Dora Maar Residency with. I have been in good health all through my stay, which was longer than 14 days and so had everyone I had been with there.
    On Monday, the 16th, we were informed by the director of the residency, that France was shutting down in a couple of days over the coronavirus and we had to get out before then. So I had to scramble to get a flight out as soon as possible.
    Throughout my stay, I took all-necessary precautions I could take and took extra measures while at the airports and on the flights.
    When I arrived Nigeria yesterday, along with all the passengers on the flight, we were subjected to thermal scans and submitted our details to the health officers at the airport.
    Coming from a high-risk country, I have chosen to be responsible and self-isolate for the recommended 14 days. I have not left my Abuja residence since I arrived.
    So today, this stranger called. She works with the Nigeria Centre for Disease Control, she said, and was calling to inquire about my health, if I’ve had any fever, or cough or other symptoms of COVID-19. I have not and I told her and added, before she could ask, that my household is self-isolating as recommended.
    She said she was going to be calling regularly to find out how I am doing and gave me the NCDC toll-free number to call, if there is any development.
    Ordinarily, this is not a call I would have wanted but I am happy there is a commitment by the NCDC to follow up on “passengers of interest” as the person called me.
    This is a serious situation and we must all be responsible, protect ourselves by washing our hands regularly with soap or hand sanitizers. I know Nigeria is a country of faith and I know religious leaders have made astonishing claims about the virus. I have heard Muslim leaders saying it is Allah’s punishment to China for persecuting Muslims. I have also heard Christian leaders saying they are chosen or otherwise anointed so they and their followers will not be affected. At the airport, there was a Catholic nun who confidently declared that the virus wouldn’t survive Nigeria’s weather.
    “I know what I am talking about,” she added with pizazz.
    I felt sorry for all those who would believe her.
    Be responsible, religious leaders. Consider closing schools, churches, and mosques. Pray from your homes. If you must be out and about, maintain a one meter (or three feet distance) from the next person.
    Don’t test God with stupidity.
    I am confident a treatment and vaccine would be found for COVID-19 but until then, be responsible. Take care of yourself and your loved ones. And take care of the other souls you come in contact with everyday.

    Abubakar Adam Ibrahim

     

    22. März 2020

    Robert Streibel, Wien

     

    Ich bin ein Verdrängungsweltmeister
    In meinem Büro ist ein Gedränge, atemberaubend, manchmal bekomme ich fast keine Luft. Der geforderte Meter Abstand ist unmöglich einzuhalten. Nie habe ich es geschafft, ihnen den notwendigen Raum dazwischen zu lassen, jetzt wäre es nötig. Aber ich kann keine Rücksicht nehmen auf alle Empfehlungen. Wenn ich alle Lampen einschalte, ist es besser. Neben mir, hinter mir, vor mir, sie kommen mir ganz nahe.
    Bevor jetzt irgendwer im Innenministerium meine Adresse trackt, wie das so schön heißt, um zu überprüfen, ob ich eine illegale Veranstaltung abhalte, gleich hier eine Klarstellung. Ich halte mich an alle Vorschriften und bin zu Hause. Home office. Ein Privileg und trotzdem ist alles überfüllt. In Zeiten wie diesen darf man sich nicht spielen, daher kommt die Klarstellung bereits an dieser Stelle.
    Wenn ich Sie im Unklaren gelassen hätte und das Rätsel später gelüftet hätte, wäre das literarisch sicherlich spannender. Sonst hätten sie jetzt die Vorstellung von einem bis auf den letzten Platz gefüllten Raum, überall sind sie, auf den Sesseln, auf dem Schreibtisch, überall, wo nur irgendein Platz ist, sind sie zu finden. Nein, das ist keine Studenten WG, alles geht gesittet ab, kein Durcheinander. Wenn ich aufstehe, kann ich mich trotzdem im Raum bewegen, ohne an irgendjemandem anzustreifen. So viele sind da, sie sind nicht gekommen, sie sind da, in jedem Jahr werden es mehr, sie gehen nicht heim, wohin sollten sie auch gehen? Einmal eingeladen, sind sie da und verschwinden nicht, manche verdrücken sich in eine Ecke, manche auch in Schachteln. So viele, so dicht gedrängt und keine Tröpfcheninfektion. Keine Gefahr also. Die Erinnerung nässt nicht.
    Durch die neuen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus sind wir gezwungen, zu Hause zu bleiben. Ein Privileg, dass der Billa-Kassiererin nicht gegönnt ist. Von zu Hause zu arbeiten heißt auch, auf sich zurückgeworfen sein, allein gelassen mit all der Geschichte, mit all den Geschichten, mit all den Personen, die ich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren angesammelt habe. Keiner verschwindet, alle sind da. Die Toten aus Stein sind zu meinen Füßen, sie haben es schon in Schachteln geschafft, Eugenie Schwarzwald und ihre Schülerinnen, die sind noch in Ordnern, sie wehren sich ein wenig, abgelegt zu werden. Der Zweigelt liegt verstreut in mehreren Dokumenten herum, dazwischen noch der Peter Handke von der letzten Marathonlesung und überall Nazis: Brutale und harmlose. Die letzten, die sich bei mir eingenistet haben, sind die beiden Bombenattentäter von Krems, vom Juni 1933.
    Zu Hause zu arbeiten ist schön, aber es zwingt zu einem besonderen Verhalten: Zur Ablage. Niemand macht heute mehr Ablage, denn alles ist elektronisch, wer hat noch Zetteln? Meine Ablage ist mein Archiv und das ordne ich jetzt.
    Ich bin ein Verdrängungsweltmeister, kein Wunder, ich habe von den besten gelernt als Historiker, der sich auch mit dem „Umgang“ mit dem Nationalsozialismus beschäftigt hat. Und jetzt? Was mache ich jetzt? Ich habe meine Geschichte. Ich kann mich in die Geschichte zurückziehen, von der Arbeitslosigkeit der 30er Jahre lesen und dabei die aktuelle Situation vergessen. Ich muss nicht trauern, denn die, die um mich sind, sind alle schon tot.
    Die Geschichte hat einen großen Vorteil. Wer sie studiert, ist klüger, der weiß, wie es ausgeht, der weiß, was passiert ist. Mit dem Leben verhält es sich da etwas anders. Wir sind auf uns zurückgeworfen. In der Welt passiert außer dem Virus scheinbar nichts mehr.
    Mein Vater, der weiß, wer in welchem entscheidenden Fußballspiel das Tor geschossen hat, weiß jetzt, wie viele Infizierte es heute sind, um 31% mehr als gestern. Ich bin gespannt, wie die Zahlen am Abend sind.
    Morgen packe ich Hans Georg Friedmann in eine Schachtel. Der dreizehnjährige Bub aus Hietzing hat bis zu seiner Deportation Krimis geschrieben. Er hat sich einen Helden erfunden. Tom Lasker. Die Krimis hat die Haushälterin aufgehoben, sie haben den Krieg überlebt.
    Manche meinen, wir befinden uns jetzt im Krieg. In der Abenddämmerung fliegen die ersten Fledermäuse dieses Jahres vor unserem Fenster. Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll.  

    Robert Streibel

     

    Gunther Neumann, Wien

     

    Ausgangsbeschränkung. „Think global, act local,“ lautete der eingängige Spruch. Jetzt ist Abend. Wir sind erschöpft, von den Tagen mit den etwas verunsicherten Kindern, im Home Office, von der Bewältigung des Rest-Alltags. Kaum ein Gedanke über den eigenen Tellerrand, über die plötzlich geschlossenen Grenzen. Oder doch: Was wird aus unserer bislang scheinbar heilen Welt - die beim Blick hinaus, bei der Arbeit im globalen Süden natürlich nie heil war.
    Kommt jetzt, im Bedürfnis nach Keim- und Virenfreiheit, das Ende der Globalisierung? Kommt „nach Corona“ statt des gescholtenen Neo-Liberalismus der Neo-Nationalismus? Ein erschreckendes Szenario: der Kampf Abgeschotteter gegen alle anderen Abgeschotteten; Impfstoffe, Medikamente, Schutzkleidung nur mehr für die „eigenen Leute“. Abschottung führt zu einer Abwärtsspirale, unvermeidliche Wirtschaftskrisen erhöhen die Sterblichkeit unter den ärmeren Menschen und Ländern – und die gehen nicht in die Tausende, sondern rasch in die Hunderttausende. Autorinnen mögen zu literarischen Dystopien angeregt sein. Doch nicht Pessimismus ist angesagt, auch keine Grenzschließungen, sondern „factfulness“, lokale Achtsamkeit, und globale Zusammenarbeit bei der Entwicklung neuer Impfstoffe, Netzwerke, Gedanken. Die offene Gesellschaft ist (heraus)gefordert.

    Gunther Neumann

    21. März 2020

    Erika Pluhar, Wien

     

    Es ist diese Stille. Dieser Rückzug aller Menschen ins Häusliche. Das Abwarten. Die Bemühung, sein täglich Brot in möglichst gewohnter Menge zu verdienen. All das.
    Es ist die Stimmung meiner frühesten Kindheit. Die meines ersten Wahrnehmens von Leben, als ich auf der Welt war. In unserer Döblinger Wohnung, während der Zweite Weltkrieg die gesamte Welt schon erfasst hatte, da empfand ich, das Kleinkind, unser Leben genau so. Und ich empfand es so, ehe die Bomben kamen. Ehe Wien bombardiert wurde.
    Jetzt sitze ich vor dem Arbeitstisch an meinem Laptop, schaue hinaus ins durchsonnte Ahorngeäst, und muss nahezu achtzig Jahre später einer alten Frau, die ich ja bin, mit leisem Lächeln, aber doch, klarmachen, dass keine Bomben fallen werden. Dass die Gefährdung jetzt in anderer Weise auf uns Erdenbewohner lauert.
    Die scheinbare Sicherheit unserer mediengesteuerten, mittlerweile in den Wahnsinn hinein digitalisierten Welt ist zerbrochen. Unsere ver-rückte Zivilisation muss verstummen, ist gelähmt, muss sich - ob sie will oder nicht – mit der Vernunft konfrontieren. Leider ist die Spezies Mensch zum größten Teil mit Unbelehrbarkeit und Unvernunft ausgestattet. Wäre mir das nach einem so langen Leben nicht mit betrüblicher Gewissheit bewusst geworden, könnte ich ja – egal, wie lange sie währt – an diese Krisensituation die Hoffnung knüpfen, sie wäre eine Zurechtweisung und Belehrung, die vom Menschen verstanden, begriffen, beherzigt wird.
    Jetzt sind es nicht mehr die angeblich das Land überschwemmende Horden von Flüchtlingen, die Ängste auslösen, die man schüren kann – wie es denen ergeht, ist jetzt allseits und allen, der Bevölkerung, den Politikern - völlig gleichgültig geworden. Jetzt herrschen Ängste, die nicht fälschlich geschürt werden müssen, sondern existenziell vorhanden sind. Einer Bedrohung gelten, die existiert.
    Wie es im Krieg war. Als die Bomben vom Himmel fielen.
    Jetzt blühen in meinem Garten die Veilchen – singen die Amseln – herrscht ein wunderbarer früher Frühling. Sind die Parkanlagen gesperrt, die Straßen leer, nur wenige Menschen, und mit großem Abstand zueinander, unterwegs. Jetzt ist es das Unsichtbare, Unhörbare, aber nicht zu verleugnende Vorhandene, das uns bedroht.
    Es ist diese Stille.
    Sie hat für eine Weile gesiegt.   

    Erika Pluhar

     

    Petra Hartlieb, Wien

     

    Am Dienstag, dem 16. März, bin ich am Morgen aufgewacht und brauchte drei Minuten, um zu begreifen, dass heute kein normaler Tag sein wird. Dass vielleicht nie mehr ein normaler Tag sein wird.
    Und dann blieb ich noch drei Minuten im Bett und dachte darüber nach, welche Probleme ich in meinem früheren Leben hatte. 1.) Ich wollte fünf Kilo abnehmen. 2.) Ich wollte einen letzten Versuch starten, meinen schwierigen Hund besser zu erziehen. 3.) Ich wollte disziplinierter schreiben, um den Abgabetermin zu schaffen.
    Recht viel mehr fiel mir nicht ein.
    Als ich am Freitag von den Geschäftsschließungen für eine Woche hörte, versuchten wir auszurechnen, was das für unser Budget bedeutet. Das ist ja nicht so schlimm, wir hatten ja auch schon mal zwei Wochen wegen Renovierung geschlossen und haben das Jahr überstanden. Ich brauchte das ganze Wochenende, um zu begreifen, dass zwar von einer Woche geredet wird, niemand aber eine Woche meint. Was würde das bringen? Eine Woche zu und dann Business as usual? Also zwei? Oder drei? Oder zwei Monate?
    Ein Wochenende voller Verzweiflung. Ich habe gefühlte zwölf Stunden am Tag Nachrichten geschaut, in der Nacht nichts geschlafen, geweint, mit Freunden geschrieben, mit Mitarbeiterinnen telefoniert. Dazu kam, dass ich Husten und erhöhte Temperatur hatte und nicht mal arbeiten durfte, am „letzten Tag“.
    Doch wir wären nicht wir, wenn wir einfach aufgeben würden. Mein Mann und ich sind wahre Meister im „Schönreden“, also werden wir das auch irgendwie schaffen. Na ja, schönreden kann man jetzt nichts mehr, gar nichts, aber wir können uns auch nicht einfach die Decke über den Kopf ziehen und nichts tun! Wir müssen die Gehälter für dreizehn Menschen bezahlen, Miete, Lieferanten, Steuern, Strom ...
    Wie soll das gehen, wenn der Laden zu ist? Null Einnahmen und tausende Euro Ausgaben. Wie machen die anderen das? Nach und nach realisiere ich, dass es „alle“ betrifft. Das wir vielleicht unser Geschäft verlieren, nicht, weil wir schlecht gewirtschaftet haben, zu schnell gewachsen sind oder ich irgendeine schlimme Krankheit habe, die mich aus der Bahn wirft. Nein. Alle, wirklich alle, müssen zusperren. Alle unsere KollegInnen. Der Wirt, wo wir immer hingehen. Der Blumenladen, wo ich schön langsam meine Terrassenpflanzen kaufen sollte ...
    Am Donnerstag, den 12. März schreibe ich einen Text über die Krise und dass wir keine Veranstaltungen mehr abhalten können. Unsere geniale Social-Media-Mitarbeiterin dreht einen kleinen Film über die Jungs, die den Versand bei uns normalerweise machen. So nebenbei, weil so viel ist das nicht. Um 16:30 stellen wir das auf Facebook und ich schreibe: „und selbst, wenn wir aufgrund irgendwelcher Maßnahmen einmal schließen müssten, unser Webshop läuft weiter.“
    Und nun sind wie eine Versandbuchhandlung, begeistert und gleichzeitig überfordert angesichts der Flut an Bestellungen.
    Fortsetzung folgt.

    Petra Hartlieb

     

    Gunther Neumann, Wien

     

    Auch ein egoistischer Gedanke eines Autors sei dieser Tage erlaubt: der an den eigenen Roman. Gerade erschienen, sehr ungewollt ganz zeitgerecht zum Beginn der laufenden Krise. Er sollte in Leipzig vorgestellt werden. Die Buchmesse ist abgesagt. Präsentationen in Österreich? Bis auf Weiteres: abgesagt. Auch das Feuilleton konzentriert sich – trotz etlicher erfreulicher Rückmeldungen - nun auf „die Krise“, auf die psychologischen, soziologischen, kulturellen Auswirkungen. Also ausweichen „ins Netz“? Nicht so einfach, wenn der Autor / die Autorin sich nicht so gerne selbst vermarktet. Und wenn „die Krise“ vorbei ist, kommen die nächsten Neuerscheinungen. Vielleicht sind ein paar neue dystopische Romane dabei – die haben dann sicher Konjunktur. Für das eigene Buch: Pech gehabt. Doch lamentieren hilft nichts. Unzählige Menschen bangen unmittelbarer um ihre Existenz, die in unserem noch immer halbwegs sicheren Europa zumindest abgefedert werden kann. In anderen, durch die eigene Arbeit vertrauten Weltgegenden haben die Menschen kein funktionierendes Netz, oft nicht einmal zum Fischen.

    Gunther Neumann

    20. März 2020

    Zoran Dobrić, Wien

     

    Zwei Coronaviren sitzen in einer Bar in Bergamo und langweilen sich. Sagt das Erste: „Ich würde gerne noch was trinken.“ Das Zweite kontert: „Hier sperren ’s gerade zu. Gemma nach Tirol, die haben sicher offen.“ „Kommt mit, Jungs, ich hab‘ ’ne Bar in Ischgl“, sagt der Barkeeper.
    Wenn es nicht traurig wäre, wäre es lustig. Nun, es ist traurig, weil viele Menschen sterben werden, die es, wahrscheinlich, nicht hätten müssen, und wir eine wesentlich schnellere Ausbreitung des Covid-19 haben, als es notwendig wäre. Besonders schlimm, dass in den Tiroler und Vorarlberger Skigebieten auch viele Ärzte waren, die das Virus direkt dorthin brachten, wo das Virus auf keinen Fall hindurfte – in Spitäler, unter Kranke und Schwerkranke, unter Menschen, die dem Virus am wenigsten Paroli bieten können. Und nicht nur dass, je mehr verseuchte Spitäler, desto weniger arbeitsfähige Ärzte und weniger Chancen unser Gesundheitswesen aufrechtzuerhalten und den immer mehr Infizierten zu helfen. Genau dieses Szenario hat Italien heimgesucht, und genau das wollten die chinesischen Epidemiologen unbedingt in Wuhan vermeiden. Darum haben sie eigene „Corona-Spitäler“ gebaut, um die Epidemie von den öffentlichen Krankenhäusern fernzuhalten, sie zu „karantenisieren“ und so unter Kontrolle zu bringen.
    Kroatien ist auch ein Nachbarland von Italien und ist, noch mehr als Österreich, auf den Tourismus angewiesen. Die Zahl der Infizierten in Kroatien ist erst gestern bei 100 angelangt. Heute sind es 102 und ein Todesopfer. Bei uns in Österreich wurden bis heute 08:00 Uhr 2203 Infizierte und sechs Tote registriert.
    Die Dänen, Schweden und Norweger sind zurzeit „nur“ sauer, dass wir das Virus zu ihnen exportiert haben. Ich fürchte, sie werden es, wenn das Schlimmste vorbei ist, nicht dabei belassen, und das zu Recht. Die Infos über die „Versäumnisse“ der Tiroler Behörden sind nicht nur medial um den Globus gereist. In der Zeit des Klimawandels war der Umgang der Tiroler mit Covid-19 das letzte, was der österreichische Fremdenverkehr gebraucht hatte.
    Dabei hatten wir genug Zeit, aus den chinesischen und italienischen Szenarien zu lernen.

    Zoran Dobrić

     

    Gunther Neumann, Wien

     

    Entschleunigung ist angesagt, ein schönes Wort, Leben im Standby-Modus, maximal Home Office? Anglizismen. In der Frühlingssonne in der Hängematte liegen, ein gutes Buch einer geschätzten Verlagskollegin in den Händen, am Tablet zwischendurch das Wichtigste erledigen, sich ab und zu den Bauch kratzen? Wie schön, der Gedanke … mit zwei Kindern im lebhaftesten Kindergartenalter. Als Vater begrüße ich die Schließung von Schulen und Kindergärten bis Ostern ausdrücklich – dennoch, wie soll Home office mit Kindern gelingen? Von aufkommendem Lagerkoller bei und mit Kindern zu schreiben, ist beim Gedanken an Moria, Dadaab oder Zaatari frivol. Aber dennoch – die Kinder wollen raus. Auch ohne Spielgefährten, und trotz geschlossener Spielplätze. Ein sonniger Tag - also zum nahe gelegenen Wiener Augarten - schön Abstand halten! Dort stehen wir vor verschlossenen Toren. „Warum?“, fragen die Kinder, „warum?“ Ja, weshalb eigentlich? Spazierengehen ist doch noch erlaubt. Ist die Virusdichte im riesigen Augarten höher als auf der Straße oder an der Supermarkt-Kassa? Vor dem Parkeingang an der Mauer sitzen vereinzelte Paare in der Frühlingssonne, manche lesen, ein Vater spielt mit seiner Tochter Federball, weit weg von den anderen. Bis ein Polizeiwagen anrollt, mit vier Beamt(inn)en voll besetzt. Per Megafon werden alle Sitzenden und die Federball-Spieler aufgefordert, wegzugehen. Ich wage zu fragen, „warum?“ Die Antwort der Uniformierten aus dem Wagen: „Spazierengehen ist erlaubt, sonst nichts“. Also kein Federball, kein Sitzen. Stehenbleiben auch nicht. Abstand. Verstand? Das Leben geht weiter.

    Gunther Neumann

     

    Lukas Kummer, Kassel

     

    Ich bin heute Morgen wieder um drei aufgewacht. Ich bin seit einer Woche erkältet (kein Corona!) und die Halsschmerzen reißen mich jeden Tag früh aus dem Bett. Dann Kaffee, Nachrichten, Twitter usw. Das Haus für einen längeren Zeitraum nicht zu verlassen, ist keine neue Erfahrung für mich. Als Comiczeichner isoliere ich mich in einer gewissen Regelmäßigkeit, um ungestört an meinen Projekten arbeiten zu können. Eine Beobachtung, die ich während dieser Arbeitsphasen immer wieder mache, ist die Verschiebung der eigenen Wahrnehmung. Das “Draußen” erscheint mir zunehmend befremdlich und surreal. Man betrachtet die Welt und sich selbst gefiltert, so, als wäre man sein eigener Poltergeist. Im Moment ist es ähnlich. Ohnmächtig beobachte ich, wie das vertraute Gefüge zu bröckeln beginnt, wie Ereignisse ins Rollen kommen und immer unaufhaltsamer talwärts stürzen. Im Tal selbst sehen wir, was auf dem Spiel steht und was kaputt werden kann, wenn sich das Geröll nicht doch noch irgendwo verfängt.  

    Ich habe es, im Vergleich zu den meisten, gerade sehr einfach. Keine Kinder, keine Verpflichtungen und finanziell reicht es auch. Ich darf also nicht jammern. Die gefühlte Surrealität ist ein Luxusproblem im Gegensatz zum Alltag vieler Menschen, in den die Realität längst Einzug gehalten hat. Sie müssen Entscheidungen treffen und Dinge tun, von denen ich mir nicht einmal eine Vorstellung machen kann. Und wiederum andere sind Meister darin, die Tatsachen zu verdrängen.  

    Wie das Ganze ausgeht, weiß noch keiner. Komischerweise mache ich mir kaum Sorgen. Mein Leben hat sich, wie eingangs erwähnt, kaum verändert. Ich frage mich nur, wann die Realität an die Tür klopft.  

    Lukas Kummer

     

    Ursel Nendzig, Wien

     

    Corona treibt auf die Spitze, was Elternsein heißt. Nämlich: Keine Ahnung zu haben, was zu tun ist. Und trotzdem den Anschein zu erwecken, man habe alles im Griff.

    Den Unterricht zuhause abzuhalten, zum Beispiel. Ich weiß nicht, wie man das macht. Wie oft brauchen Kinder eine Pause beim Lernen? Wie geht der Trick beim Dividieren durch eine Zweistellige Zahl? Muss man ins Rechenbuch mit Bleistift oder Füllfeder schreiben? Beim Antworten gebe ich mich so sicher, wie ich kann. Nach einer dreiviertel Stunde. Man rundet die Zahlen erst einmal. Bleistift.
    Die Quarantäne, auch so schwierig. Ob das was bringen wird? Ob wir das kriegen? Ob die Oma und der Opa daran sterben können? Ob wir sie jetzt an Ostern besuchen dürfen oder nicht? Ich antworte, wieder, so sicher ich kann. Ja. Vielleicht. Vielleicht. Nein. Aber ich stelle mir selber genau die gleichen Fragen. Vor allem diese: Wie lange wird es dauern?

    Das ist die größte Unsicherheit, dieses ungewisse Ende. Neun Wochen Sommerferien sind schon eine Herausforderung, zwei Kinder daheim, zwei Selbstständige, es dauert immer zwei oder drei Wochen, bis sich alles eingespielt hat. Pläne helfen, ganz banale: Tagespläne, wer wann arbeiten darf. Essenspläne. Aktivitäten aufschreiben, die man machen möchte, jede Woche darf einer einen Ausflug aussuchen. Neun Aktivitäten, die Woche Urlaub abgezogen, bleiben acht. Die Woche bei den Großeltern, bleiben sieben. Sieben Essenspläne, sieben Ausflugsziele, sieben Wochen. Das geht.
    Aber das hier ist neu: Planen für eine unbekannte Zeit.Sommerferien, da fällt mir ein: auch so eine Sache, die wir für gegeben angenommen haben. Wie Unterrichtsbeginn um acht. Wie Ladenöffnungszeiten. Wie Spielplätze, Fußballplätze, Kindergeburtstage. Diese Situation gerade ist wie eine Erinnerung daran: wir haben uns das alles nur ausgedacht. Wir haben uns diese ganze Konstruktion aus dem Nichts überlegt, fixiert und festgelegt. Und wenn wir es uns wegdenken, ist es auch wieder weg. Alles, woran wir uns so klammern, unsere Routinen, alle weg. Wir stützten uns die ganze Zeit auf ein dünnes, fragiles Geländer.
    Es ist ein Impro-Stepptanz, ohne Choreo, dafür mit Hebefiguren. Mal sehen, wie lange unsere Puste hält.

    Ursel Nendzig

     

    Konrad Kramar, derz. Bad Hall

     

    Ich habe den Ausbruch der Corona-Krise in einer Reha-Klinik im oberösterreichischen Bad Hall erlebt, wo man mich wegen eines drohenden Burn out hingeschickt hatte. Ich war also umgeben von psychisch kranken Menschen aller Art, als Tag für Tag neue Maßnahmen der Regierung und neue Fallzahlen verkündet wurden. Diese Maßnahmen versuchte dann eine merklich überforderte medizinische Leitung möglichst lückenlos in der Anstaltsrealität umzusetzen. Allein die tägliche Verkündigung der neuen Regeln für den Reha-Betrieb durch die Leiterin im großen Speisesaal sorgte jedes Mal für gespenstische Stimmung. Egal, ob es sich nun um die Sperre von Räumen handelte, die Absage von Therapien in der Gruppe, oder schlicht das Ende der gemeinsamen Spaziergänge im Freien: Für Menschen, die in vielen Fällen ohnehin darunter leiden, dass sie ihr Leben nicht selbst in der Hand haben und ständig von anderen und deren Entscheidungen abhängig sind, trifft das genau ihre Ängste.

    Entsprechend waren die Reaktionen. Manche Patienten wurden sofort von der fixen Idee überfallen, dass man sie ohnehin bald gänzlich einsperren werde, und sie daher einfach so rasch wie möglich rausmüssten. Viele reisten tatsächlich Hals über Kopf und während der Abendstunden ab. Depressive vertauschten ihre Antriebslosigkeit mit einer plötzlichen panischen Betriebsamkeit. Andere wiederum wurden aus der Routine herausgerissen, in die sie sich gerade eingelebt hatten und sich einigermaßen sicher fühlten. Eine Reha-Anstalt dieser Art bietet ja ganz bewusst eine strikte tägliche Routine, von den Essenszeiten bis hin zu den Dienstplänen für alle Therapien, die jeder Patient mit sich herumschleppt, um sich wie in der Schule seine Anwesenheit bei jeder dieser Therapien per Unterschrift bestätigen zu lassen. Wer sich an diese Routine anpasst und sie brav einhält, kann sich sicher und gut aufgehoben fühlen – umso schlimmer, wenn sie auf einmal auseinanderbricht.

    Während die einen also mit Flucht reagierten, gerieten die anderen in einen aufgeregten Herdentrieb. Ständig versammelten sich Gruppen auf dem Gang, um die letzten Entwicklungen und natürlich die passenden Katastrophenszenarien zu diskutieren. Viele, die zuvor abseits der Therapien kaum in Erscheinung getreten waren und zurückgezogen in ihren Zimmern gelebt hatten, waren auf einmal in ihrem Sozialverhalten kaum noch zu bremsen. Es gab jene, die alles fast krampfhaft verwitzeln mussten, und jene, die aus allem eine Tragödie inszenierten, jene, die sich vor allem um sich selbst und jene, die sich ständig um andere Sorgen machten – ohne zu fragen, ob diese Sorgen überhaupt begründet waren. Alle Verhaltensweisen, wie sie auch draußen in der realen Welt anzutreffen sind, waren vergrößert und verzerrt, manchmal ins Groteske: Ganz so, wie sich im „Zauberberg“ von Thomas Mann Orientierungslosigkeit und Niedergang der Bourgeoisie in einer Lungenheilanstalt spiegeln. Die Reha-Anstalt inmitten der Corona-Krise als die kleine Welt, in der die große ihre Probe hält. Gelungen aber ist diese Probe beileibe nicht.

    Konrad Kramar

     

    19. März 2020

    David Sax, Toronto

     

    Seek Sanity in the Analog

    What has helped me the past week, as I have been stuck in one place, with my family?  Not the news. Or googling coronavirus symptoms. Or frantic text chains with friends.  No.  What has really helped are the analog activities that provide a pure escape from all that is going on outside the door.  Reading a book to my children. Baking bread. Playing a board game with my kids.  Listening to a record.  These activities are contained.  They ask nothing of you, require no subscription, no connection, no software updates that do not work. And they provide a pure escape for the mind, at least for an hour or so.  Digital technology is essential in this crisis.  We need to speak with loved ones and friends outside our homes, need to work remotely, need to find out essential information.  But it can be overwhelming, and the stream of information is incessant.  When it feels too much, put the phone away, in another room, or even turn it off.  Pick up a book. Play a game.  Do a puzzle.  Take your time to breathe.  Seek sanity in analog.  

    David Sax

     

    Elisabeth Klar, Wien

     

    Donna Haraway spricht in Unruhig Bleiben (im Original Staying With The Trouble) von einem Leben in Zeiten von Dringlichkeiten. Manche davon sind spürbarer als andere, und manche steigern sich gerne exponentiell. Ende letzter Woche wurden Schritt für Schritt die Ausgangsbeschränkungen eingeführt (während sich die Skilifte weiter drehen), Samstag auf Sonntag träume ich davon, Berge von Pizza zu essen, Sonntag auf Montag träume ich von Bergen von Spaghetti, satt werde ich jedenfalls nie. Ich bin nicht die einzige Traum-Stress-Esserin, erfahre ich, Österreich steigt mit seinen Fallzahlen weiter an, im Gesundheitssystem sind die Rechnungen schnell gemacht: Wir wissen genau, wie lange wir genug Intensivbetten haben, wenn die Ansteckungskurve weiterhin so steil bleibt, danach wird aussortiert. Aussortieren bedeutet: Eine Gruppe, die gar nicht behandelt wird, da ihre Überlebenschance als zu gering eingestuft wird, eine Gruppe, die noch nicht behandelt wird, weil die Symptome noch nicht ernst genug sind, und die dringliche, dabei am meisten Leben versprechende Gruppe. Ich weiß nicht, welcher Gruppe die Flüchtlinge auf Lesbos zugeordnet werden, oder schon, eigentlich. Ich träume vom Essen, und habe auch mehr Hunger als sonst, und ich weiß, der Gwigwi hält wieder Einzug, hier wie dort, nur dort mit festeren Schritten. Ich will es nicht wissen. Hier hält man uns auf Abstand, dort pfercht man sie zusammen. Von der Aussortierung trennen uns vielleicht zwei Wochen, trotzdem kein Vergleich. Vor der Aussortierung schützt uns nur eine statistische Verflachung. Ich hätte gern mehr Abstand zu all dem, und könnte doch nicht mit mehr Abstand leben. Alles ist viel zu gleichzeitig, von Verlangsamung nicht zu reden, dazwischen noch Worte finden, ich weiß nicht, wie macht man das.

    Elisabeth Klar

     

    Gunther Neumann, Wien

     

    Ein Blick in die Schlagzeilen, in der Verdichtung unseres Zeitgefühls: Amazon will 100 000 zusätzliche Mitarbeiter einstellen. Good news? Arbeitsplätze? Schöne neue Welt. Was bedeutet das für den stationären Handel, die Buchhändler(innen) „ums Eck“, für deren Arbeit, deren Existenz, für unsere unmittelbare Lebenswelt? Auch da ist Solidarität angesagt – Bestellung bei den Buchhändlerinnen, soweit wie möglich: viele nehmen Bestellungen entgegen, versenden rasch, versuchen, ökonomisch zu überleben. Wann brauchen wir selbst Hilfe? Nicht erst im globalen Shutdown, der uns in Atem hält oder ihn uns nimmt. Vielleicht stärkt eine Krise das Bewusstsein und Gefühl, dass wir aufeinander angewiesen sind. Abstand sei mit Corona die zeitgemäße Form der Zuwendung. Die WHO dagegen hatte schon vor längerer Zeit 2020 zum „Year of the Nurse“ ausgerufen. „Care-Arbeit“, oft am Limit, meist un(ter)bezahlte Frauenarbeit, in Krankenhäusern, Altenheimen, Kindergärten, in den Familien. Banken sind „systemrelevant“. Der „Rest“ nicht?

    Gunther Neumann

     

    Peter Rosei, Wien

     

    Ich bin nicht der Überzeugung, dass alles gut wird. Für manche von uns vielleicht. Für viele kann es bitter kommen, vor allem wieder für die ohnehin Schwachen. Mit meinen Gedanken bin ich vor allem bei den jungen Leuten und ihrer Zukunft. Ich begrüße alle wirtschaftspolitischen Hilfsmaßnahmen, seien es die unserer Regierung, die der Nationalbank, der EZB usf. Wie läppisch kommt mir doch der eigene Alltag als sog. Risikofall vor! Nach Biedermeier ist mir nicht zumute. Erfreulich am "Team Austria" finde ich die Besonnenheit der meisten, die Hilfsbereitschaft der vielen, den Einsatz "unserer Helden", den man belohnen, jedenfalls nicht gleich wieder vergessen sollte - "wenn alles einmal gut ist." Eine solidarische Gesellschaft, nicht nur in Krisenzeiten - wie würde die denn aussehen?

    Peter Rosei

     

    Jad Turjman, Mattsee

     

    Die aktuelle Stimmung rund um die Eindämmung des Coronavirus ist mir keineswegs fremd. Als 2011 der Krieg in Syrien ausbrach, wurden alle Menschen besorgt und gestresst. Der gewöhnliche Alltag veränderte sich drastisch. Wir mussten auf Dinge verzichten. Es war ein ernüchternder Moment, festzustellen, dass vieles, was wir hatten, nicht mehr selbstverständlich ist. Menschen begannen, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie den Krieg überleben könnten. Natürlich konnte man nicht einkaufen gehen, und dabei ein Gefühl von Sicherheit haben.
    Auch wenn es in Syrien damals um etwas anderes ging als heute, sehe ich jetzt viele Parallelen und kann behaupten, dass es eine lehrreiche Situation und große Lektion ist. Es steckt in dieser Krise ein großes Potenzial. Einmal innezuhalten und über uns und unseren Lebensstil nachzudenken. Das gilt besonders für diejenigen, die bislang kein Verständnis für Geflüchtete aufbringen konnten und jetzt ihre Speisekammer mit Klopapier und unnötigen Dingen für ein Jahr vollgestopft haben.

    Urteile bitte nicht mehr über andere

    Jetzt können wir vielleicht mehr Verständnis für Menschen haben, die vor Krieg, Verfolgung und Armut fliehen. Und auch nachvollziehen, dass dieser Überlebensinstinkt dazu führen kann, dass man bereit ist, mit dem Schlauchboot das Mittelmeer zu überqueren.
    Diese Situation zeigt uns auch die Gefahr einer Doppelmoral in der Politik: Wenn die Gefahr uns selbst betrifft, dann können wir Schulen schließen, Systeme herunterfahren und unseren Alltag stoppen. Aber wenn Menschen an unseren Grenzen ertrinken, erfrieren und menschenunwürdig behandelt werden, dann können wir sie ihrem Schicksal überlassen und wegschauen. Vielleicht bleibt von Corona eine Lektion gegen jede Überheblichkeit, wenn alles vorbei ist... Ich sehe in dieser Krise insofern auch eine Lektion, weil sie alle betrifft und uns auf schräge Art und Weise eint. Länder die sich gestern bekriegt haben, sitzen heute im gleichen Boot. Politiker, die gestern noch hässlich miteinander umgegangen sind, arbeiten jetzt zusammen.
    Dieses Virus will uns auch etwas über Rassismus lehren. Es ist nicht rassistisch. Dem Virus ist deine Hautfarbe und Religion egal. Es macht keinen Unterschied zwischen Muslim und Christ, schwarz oder weiß, links oder rechts.

    Am Ende mehr Zusammenhalt

    Irgendwann wird alles vorbei sein und wir werden unseren gewöhnlichen Alltag wiederhaben. Aber ich hoffe, dass wir dann mehr Zusammenhalt und Solidarität zeigen werden. Und nicht nur mit einander, sondern auch unserer Erde gegenüber! Es gibt bereits eine Solidaritätswelle, Menschen helfen sich gegenseitig, achten aufeinander, machen sich Mut. Über die sozialen Medien geben Menschen Konzerte, Lesungen, wird Nachbarschaftshilfe organisiert. Ich habe live auf Facebook von Zuhause aus ein Kabarett gemacht und mit meinen Facebook-FreundInnen viel gelacht.
    Meine Hoffnung ist groß, dass wir uns dann auch jenen Menschen gegenüber solidarisch verhalten werden, die schon seit Jahren um Hilfe bitten: Menschen in Not, egal woher sie kommen. Krisen und harte Schicksalsschläge führen dazu, dass man größer denkt als in seinen gewöhnlichen Kreisen!

    Und Apropos Klopapier. Von Klopapier war in Syrien sowieso nicht die Rede. Wir haben keins. In Syrien gibt neben jeder Toilette ein Wasserschlauch. Und Leute, glaubt mir:  Es ist viel sauberer.

    Jad Turjman

     

    18. März 2020

    Susanne Scholl, Wien

     

    Weiterleben in Zeiten von Corona

    Seit fünf Tagen gehe ich nicht mehr aus dem Haus. Corona – also quasi die Pest – im 21. Jahrhundert. In Europa – dem weitaus reichsten Landstrich der Welt.
    Mir geht es gut. Sehr gut. Ich habe eine bequeme, geheizte Wohnung, ich öffne bei schönem Wetter das Fenster und sehe hinunter auf die menschenleere Stadt. Die Luft ist so gut wie schon lange nicht mehr. Es fahren kaum Autos, der Autobus kommt jede halbe Stunde. Es fühlt sich an wie ein Sonntag im Frühjahr. Im Hintergrund aber läuft das Radio und bringt mir eine Horrormeldung nach der anderen. Wieder ein Toter da, wieder neue Infizierte. Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos.
    Im Internet finde ich jede Menge Witze über die Horter von Klopapier und Küchenrollen. Was ich nur wenig finde sind Berichte aus den Flüchtlingslagern. Berichte darüber, wie sich das aggressive Virus dort ausbreitet, wo die Menschen verzweifelt, elend und sich selbst überlassen sind. Wo die Grenzen geschlossen werden. Wir sind mit uns selbst beschäftigt.
    Ich bitte Sie alle – denken Sie weiter. Denken Sie daran, dass Corona uns nicht unsere Menschlichkeit nehmen darf. Denn das wäre die verheerendste Auswirkung dieser Geißel des 21. Jahrhunderts. Im Übrigen: Hände waschen, zu Hause bleiben, gesund bleiben und nicht in Panik verfallen.

    Susanne Scholl

     

     

    Thomas Weber, Strasshof

     

    Kleist, Moos, Fasane

    Das Wasser aus der einen Tonne habe ich in die andere hinübergeschöpft. Gestern schon. Jetzt warte ich auf Regen. Bald werde ich gießen müssen. Meine Gedanken bei der Gartenarbeit drehen sich um das, was der Wind vom Radio herüberträgt, das ich zur Gesellschaft in der Mittagspause mit aus dem Haus genommen habe. Verknüpfen es mit dem, was ich beim Frühstück gelesen habe.
    In China verzögert sich heuer der Reisanbau, fällt mir wieder ein. In einigen Provinzen, die von den Behörden vorerst abgeriegelt bleiben, wird kein Getreide ausgesät.
    Auch nicht ohne, denke ich, während ich die Paprikapflänzchen und den aufkeimenden Mangold in seinen Schälchen verrücke. Dorthin, wo sie die meiste Sonne abbekommen werden.
    Haben sie die Feuer in Australien mittlerweile gelöscht? Brennt Brasilien eigentlich noch? Werde ich am Abend googlen.
    Wer hat nicht viel gelesen dieser Tage? Tagesaktuelles. Minutenaktuelles. Livestreams verfolgt. Ausgangssperren, Notbetten, Massenkündigungen. Ausnahmezustand überall. Hätten wir alle überreagiert, wir könnten einfach zu unseren altbekannten Katastrophen zurückkehren.
    Wird wohl nicht der Fall gewesen sein. Nur hier im Garten wächst alles wie immer. Solange die Tonne nicht leer bleibt.
    Drinnen kocht meine Frau. Morgen bin wieder ich dran. Wir wechseln einander ab. Ich bin ein paar Tage daheim geblieben. Jetzt arbeiten wir beide aus dem Homeoffice. Ich am Küchentisch, sie vom Schreibtisch zwischen den Bücherstapeln aus. Durch die Vorhänge kann sie mich sehen, wenn sie möchte. Ich bringe den Bienen zu trinken. Auf dem bemoosten Stein, den die Kinder im Vorjahr als Souvenir aus Schweden mitgebracht haben, landen sie besonders gerne, um aus dem Blumentopfuntersetzer Wasser zu holen. Die Kinder fehlen. Eigentlich hätten sie hier sein sollen. Irgendein Feiertag am anderen Ende des Landes. Aber nun, da die Schulen gesperrt sind, ist alles anders. Hier in der Nähe von Wien wie dort an der Grenze zur Schweiz. Die Züge sind tabu. Norditalien auch. Tirol ist Seuchenland, der Arlberg gesperrt. In Deutschland gibt’s kein Durchkommen. Aber ohne Internet – ja, eh – wäre alles noch viel schlimmer.

    Heute Abend wird gelesen. Was vom Bücherstapel. Und danach ein Hörbuch gehört. Ein Klassiker, für den ich mir sonst nicht Zeit nehme. Michael Kohlhaas, oder vielleicht irgendwas von Goethe. Oder soll ich aus Solidarität Zeitgenössisches runterladen, damit ein paar Cent bei einem Kollegen hängenbleiben?
    Vor ein paar Tagen habe ich den morsch gewordenen Flieder umgehackt und schwitzend beschlossen, mir am Abend einfach einen lustigen Film anzusehen. Nicht allzu viel nachdenken wollte ich, einfach nur lachen. „Ok, welches ist der lustigste Film, den ihr je gesehen habt?“, war meine Frage auf Twitter. Bud Spencer und Terence Hill wurden mir da nahegelegt, Louis de Funès und „The Big Lebowski“, „Die Nackte Kanone“ und „Das Leben des Brian“. Filme für mehrere hundert Stunden.
    Als es dunkel war, haben wir uns dann trotzdem wieder eine dieser Zombieserien angesehen und nach fast zehn Staffeln „The Walking Dead“ mit der ersten von „Fear the Walking Dead“ begonnen. Vielleicht, weil es sich weniger nach Eskapismus anfühlt.

    Als ich vorhin im Auto zum Arzt unterwegs war, um ein Medikament abzuholen, waren die Straßen menschenleer. Auf 23 Kilometern Hin- und Rückfahrt begegneten mir drei Autos. Dafür saß alle paar hundert Meter ein Fasan auf der Fahrbahn, ich sah dutzende Rehe und bremste gleich ein paar Mal für Feldhasen ab.
    „Ich wusste gar nicht, dass ihr in Europa richtige Hamster habt!“, hatte mir, merkbar begeistert, eine Freundin aus Chicago geschrieben. Sie arbeitet dort als Lehrerin, verlässt das Haus schon seit Tagen nicht mehr, fürchtet sich vor Plünderungen und ist froh, einen scharfen Schäferhund zu haben.
    Jetzt schafft es glatt wieder mal ein deutsches Wort in den englischen Sprachgebrauch, dachte ich, als wir über Trump chatteten. Doch der Kulturexport hatte nichts mit den „Hamsterkäufen“ zu tun. Im amerikanischen Fernsehen haben sie dieser Tage eine Doku über die Wildtiere am Zentralfriedhof gezeigt.

    Ich mach mich jetzt auf zum Bücherstapel. Es wird was Zeitgenössisches. Und wenn dann die Kinder da sind, seh ich mir mit ihnen endlich „Fack ju Göhte“ an.

    Thomas Weber